Die Fliege Und Die Ewigkeit
Es war wahrscheinlich nicht später als sechs Uhr, aber ich hatte meine Armbanduhr auf dem Nachttisch vergessen, und so konnte ich es nur schwer einschätzen.
Unten am Strand schien alles undurchdringlich. Ich ging hinunter zum Ufer, um mich zu vergewissern, dass das Wasser noch da war. Die aufgeregten Schreie der Möwen waren ein Stück rechts von mir zu hören. Ich wusch Hände und Gesicht im Wasser und ging auf die Geräuschquelle zu. Ohne den Blick auf etwas anderes als meine eigenen Füße und das heranwallende Weiß zu richten, näherte ich mich. Das komische Gefühl in meinem Magen verstärkte sich, und plötzlich flatterten zwei Vögel direkt auf mich zu. Wir stießen alle drei einen erschrockenen Schrei aus, und sie streiften mich mit ihren Flügelspitzen. Eine starke Furcht ergriff mich, und gerade hatte ich beschlossen umzukehren, als mir klar wurde, dass ich angekommen war. Aufgeregte Vögel flogen durch die Nebelwand auf etwas Dunkles, Längliches zu, das zwei Meter vor mir im Sand lag. Schwärme von Vögeln, die schrien, zerrten und hackten, flatterten und mit den Flügeln schlugen.
Ich blieb regungslos in diesem Inferno stehen und starrte auf den Gegenstand. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass es ein toter Mensch sein musste. Übelkeit stieg in mir auf. Ich wich schnell wankend zurück, wurde aber im gleichen Moment von einem Vogel getroffen, der mir direkt ins Gesicht flog. Ich fiel um, und bevor ich wieder auf die Beine kam, hörte ich eine innere Stimme sagen, dass ich nicht lebendig von hier wegkommen würde. Ich würde dem Tod hier am Strand begegnen. In diesem Nebel, in diesem feuchten Sand, es war eine gleichzeitig vertraute wie auch beharrliche Stimme, die da sprach ... wie die Steifheit im Nacken und das Warten auf das, was nie kommt.
Dann erkannte ich, dass es gar kein Mensch war, auf den man da einhackte und aus dem man große, blutige Fleischfetzen herausriss. Ich war direkt neben den Kadaver gefallen und begriff jetzt, dass es sich um einen Seehund handelte oder um etwas, das einmal ein Seehund gewesen war, jetzt aber ziemlich demoliert, aufgerissen und geradezu wie explodiert dalag. Geschändet.
Schließlich stand ich auf. Wedelte mit den Armen, so gut ich konnte, um mich zu schützen, und rannte davon. Durch den Nebel stolpernd lief ich weiter bis zum Wasser und dann den Strand entlang so schnell ich nur konnte. Ich blieb erst stehen, als die Möwen fast außer Hörweite waren, und die ganze Zeit trug ich das Gefühl eines erstickenden Würgegriffs in mir. Als ich schließlich auf einem an Land getriebenen Holzbalken niedersank, spürte ich, wie ich am ganzen Körper zitterte.
»Leon?«
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen hatte, als ihre Stimme plötzlich durch den Nebel zu mir drang. Sie war ganz in der Nähe, ohne dass ich sie sehen konnte.
»Hier.«
Ihre schmale Gestalt tauchte auf. In Stiefeln und Regenkleidung und einem Schal, der ihr Gesicht im Schatten liegen ließ.
»Gott sei Dank. Warum sitzt du hier?«
Ich zuckte mit den Schultern, wollte ihr nicht von dem Kadaver berichten. Sie ließ sich unschlüssig neben mir nieder. Keiner von uns schien viel Lust zum Reden zu haben, und so blieben wir eine ganze Zeit lang schweigend sitzen.
»Die Möwen haben geschrien«, sagte sie schließlich. »Ich konnte nicht schlafen.«
Etwas drang durch den Nebel. Vielleicht bemerkte sie es auch, denn sie fragte: »Warum hast du meinen Vater getötet?«
Ich gab ihr keine Antwort, aber durch mein Schweigen spürte ich, dass langsam alles zunichte ging. Der eine hohle Augenblick wurde auf den anderen gestapelt, und wir saßen dort auf einem morschen Balken, den die Wellen von irgendeinem unbekannten Strand hier an Land gespült hatten. Der Nebel umhüllte uns so dicht, dass wir nur mit Mühe das Wasser neben uns erahnen konnten. Vollkommen eingeschlossen waren wir, nur wenige Geräusche drangen zu uns. Nur vereinzelte, entfernte Möwenschreie, das Meer lag vollkommen ruhig.
Plötzlich kam mir die Idee, sie zu verlassen, um niemals wieder zurückzukehren, aber ich hielt mich zurück. Stattdessen begann ich zu erzählen. Nahm den Faden dort wieder auf, wo ich gestern aufgehört hatte, und heute wie gestern hörte sie mir sehr aufmerksam zu. Die ganze Zeit kamen mir jedoch immer mehr Zweifel an meinem eigenen Bericht. Ich hatte Probleme, Worte und Zusammenhänge zu finden, aber obwohl ich mehrere lange Unterbrechungen machte, brachte sie kein einziges Mal eine
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