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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Intuition? Du willst doch nicht leugnen, dass du eine fast untrügliche Intuition hast?«
    Tomas schnaubt.
    »Intuition ist ein vollkommen wertloser Begriff! Lies Wüllendörfer! Lies Höcknagel!«
    »Der Meinung bin ich nicht, und mit Höcknagel lässt sich in der Beziehung nicht viel Staat machen! Aber wenn du es nicht zugeben willst, dann lass mich etwas anderes finden ... gib mir eine Zigarette! Ja, jetzt weiß ich es! Die Fähigkeit, das Wesentliche einzufangen! Genau die hast du ... nahezu zu hundert Prozent, wie ich behaupten möchte. Das Wesentliche!«
    »Nun ja ...«
    »Doch, doch! Ein Problem einzukreisen und dann den Finger auf den springenden Punkt zu legen!«
    »Du meinst, das wäre eine ganz gute Beschreibung von meiner ... philosophischen Intelligenz?«
    »Nicht nur ganz gut. Exakt! Eine exakte Beschreibung.«
    »Hmm. In dem Fall bitte ich drum, gratulieren zu dürfen.«
    »Was?«
    »Du hast den Finger auf den springenden Punkt gelegt, oder?«
    »Äh ...«
    »Du hast meine philosophischen Fähigkeiten eingekreist und ... ja.«
    »Wenn du es sagst.«
     
     
    Und sie graben in ihrem philosophischen Humus.
    »Nicht graben, Leon! Das ist zu schwach. Wühlen! Gib mir eine Sekunde Zeit... Ja! Wie geile Trüffelschweine wühlen wir im Pfuhl der Ideen! Wir ...«
    »... pflügen die Nikomachische Ethik um, wir wälzen uns in der Leibnizschen Metaphysik, wir packen Schopenhauer bei der Gurgel und legen ihn aufs Kreuz.«
    »Gut!«
    »Warum sich am Individuellen festhalten?«
    »Wenn die Antwort im Generellen zu finden ist.«
    Nicht die beiden. Nicht Tomas und Leon. Nicht eine Sekunde lang.
    Nächte. Rauch. Marmelade. Gespräche.
    Um was es sich auch immer dreht, welche verwinkelten Pfade sie auch einschlagen ... es ist doch sicher von Gewicht? Natürlich weisen sie nach vorn, diese nächtlichen Plena, natürlich gibt es eine Richtung und eine Meinung? Natürlich gab es sie? Wenn sie sich kopfüber in die verdrehtesten und finstersten Argumentationen stürzen, natürlich kommen sie wieder nach oben, nach langer oder kurzer Zeit, und natürlich haben sie zum Schluss die Schlüsselfrage in der Hand! Und die Antwort! Aber sicher!
    Die Schlussfolgerungen werden gelagert und abgelegt. Ideen und Gedankengänge erforscht, aufgebockt, umgekrempelt und punktiert, aber das Ergebnis, es gibt doch wohl ein Ergebnis?
    Natürlich gab es doch wohl eine Ursache, die zu einer Wirkung wurde?
     
     
    Oder ist es nur die Chronologie dieses Herbstes und Frühlings, die sich konstatieren und berichten lässt? Die Richtung der Zeit? Was ist Zeit? Gab es dort überhaupt etwas, das Früchte tragen musste?
    Wer weiß? In dem rückwärts gerichteten Kaleidoskop scheint so vieles verloren gegangen zu sein in dem müden Zigarettenrauch dieser späten Nächte, der sich zu dem mattgelben Lichtschein hinaufwand ... ein letztes Zwiebackstück mit schwarzer Marmelade und kalter, bitterer Tee. Wie viele Fragen haben in diesem dreißig Jahre alten Gespräch nicht eine Antwort gesucht?
    Haben sie in einer unendlichen Reihe schlafloser Nächte gesucht.
    Die vermeintlichen Gespräche. Ernst bis auf den Tod und dennoch zerstreut.
    Das Bild eines Gesprächs. All diese Worte. Was für Fleisch ist aus ihnen geworden?
     
     
    Im Dezembermonat ist jedenfalls etwas passiert, das ist unbestreitbar. In der ersten Schneewoche dieses Jahres gibt Tomas Leon ein Manuskript zu lesen, an dem er in den letzten Nächten gearbeitet hat.
    Es trägt den Titel »Wir und die Fliegen«, und es wird ein paar Tage, bevor die Weihnachtsferien anfangen, im Philosophischen Bulletin gedruckt werden.
     

19
     
    DAS TAGEBUCH
     
     
 
    Dienstag
    Wurde frühmorgens von den Möwen geweckt.
    Mein Zimmer lag immer noch im Halbdunkel, und als ich die Jalousien und das Fenster zum Meer hin öffnete, stieß ich auf den dichtesten Nebel, den ich je gesehen hatte. Er wälzte sich ins Zimmer und umhüllte mich wie ein lebendiges Wesen. Weder Strand noch Uferlinie unter meinem Fenster waren auszumachen. Sicher betrug die Sicht nicht mehr als zwei, drei Meter, und ein vages Gefühl der Blindheit und des Ausgeliefertseins ergriff von mir Besitz.
    Irgendwo in dieser grauweißen Decke, nicht weit entfernt, schrien und kreischten die Möwen, es waren wilde, besessene Schreie, so dass ich gleich ahnte, dass etwas Besonderes vor sich ging.
    Ich zog mir Hose, Schuhe und meinen dicken Pullover an. Schlich mich, vorsichtig, auf Zehen durchs Haus nach draußen, um Marlene nicht zu wecken.

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