Die Fliege Und Die Ewigkeit
regeln, die nicht ... nicht aufdringlich erscheint. Nicht an Freiheit, Kameradschaft und Integrität kratzt. Etwas, das Leon nicht beschreiben kann, oder vielleicht nicht beschreiben will, das aber die ganze Zeit unsichtbar zugegen ist. Bald kann er selbst nicht mehr sagen, was ihn eigentlich anfangs so beunruhigt hat. Bald kann er sich kaum mehr daran erinnern, dass es überhaupt so etwas gegeben hat ... was war es gleich noch einmal gewesen?
»Lass uns heute Abend mal Kurmann’s ausprobieren!«
»Entweder wir kaufen uns eine Flasche Rheinpfalz, oder wir machen eine Runde an Arnos Keller vorbei!«
Immer ist es Tomas, der mit Vorschlägen kommt. Der verschiedene Alternativen präsentiert und die wichtigen Fragen stellt:
»Das Leben ist doch nur eine Trivialität. Warum nicht morgen zwei Damen ins Kino einladen?«
Denn er hat schon eine besondere Begabung, dieser Tomas Borgmann ... eine exquisite, exakte Zusammensetzung subtiler Eigenschaften, die nur einer sehr geringen Anzahl von Menschen zu eigen ist und die sie sofort von anderen Menschen unterscheidet. Ist es nicht so?
Die Führer. Die guten Führer.
Wie schnell er Mittelpunkt einer Gesellschaft wird! Wie leicht er das Kommando in einer Diskussion übernimmt, wenn er nur will! Mit welcher sicheren Finesse er doch die Zweifler überzeugt und die Lacher auf seiner Seite hat!
Oder es schafft, noch eine Runde Bier zu bestellen, obwohl die Bar bereits seit einer Stunde geschlossen ist.
Und mit welchem Erfolg hat er nicht in die Augen junger Frauen geschaut?
Ohne Neid zu erwecken. Ohne böses Blut zu verursachen, es ist schon merkwürdig.
Wie kommt es, dass Leon das alles nicht in Worte fassen kann, ohne den Eindruck zu erwecken, er meinte damit eigentlich etwas ganz anderes?
Und manchmal, ganz zu Anfang, fragt er sich, wo er da selbst eigentlich ins Bild kommt.
Aber Leon ist mit im Bild.
Denn meistens gehen sie nicht mehr über die Eleonorabrücke. Normalerweise, durchschnittlich an drei Abenden von vieren, beenden sie den Tag lieber bei einer Kanne Tee in Leons Bude in der Bastilje. Oder bei einer Karaffe Wein in Tomas’ Wohnung in der Walckstraat. Vorzugsweise Letzteres, hier ist etwas mehr Platz, etwas größerer Spielraum für den Geist und so das eine oder andere.
Käse und Brot konsumieren sie. Bratkartoffeln, Zwieback und eine Art fast schwarzer Marmelade – sie ist aus vierundzwanzig verschiedenen Fruchtsorten hergestellt und Tomas Borgmanns Leibgericht. Wird nur in einem einzigen Geschäft in der ganzen Stadt verkauft, und er sieht stets zu, dass er mindestens zehn Gläser Vorrat hat für den Fall, dass der Laden Pleite machen könnte. Es gibt viel, was Pleite macht oder gemacht hat im Laufe der Geschichte, das soll nicht vergessen werden, und das wird auch nicht vergessen.
Und Zigaretten. Schwer und dicht legt sich der Rauch um ihre gerunzelte Stirn. Je später, umso schwerer, umso dichter. Bis in die frühen Morgenstunden hinein sitzen sie da, und natürlich kommt es ab und zu vor, dass sie in den Sesseln einnicken, manchmal bleiben sie auch bis zum nächsten Morgen sitzen, aber das ist nicht schlimm, so ist halt die Zeit.
So ist halt die Zeit? Was meint er damit? Und was ist es eigentlich, genauer betrachtet, was da vor sich geht, in diesen Gesprächen, die gedreht und gewendet werden und sich selbst in den Schwanz beißen . . ? Es ist doch wohl der gleiche Tomas Borgmann, der ihm im gelblich fahlen Lampenschein gegenübersitzt ... die gleiche Person, die am vergangenen Abend im Arno’s Claude Perrault mit so einer Akkuratesse imitiert hat, oder? Ab und zu kommt es vor, dass Leon sich einfach herauszieht und zuschaut, sie von oben durch den Rauch und die Jahre betrachtet, gern das eine Auge dabei geschlossen, dann wird es irgendwie deutlicher. Beobachtet, zuhört und registriert, aber andererseits wäre alles andere auch nicht angemessen. Tomas ist der Schöpfer. Der, der sich betrachten lässt. Der, der handelt und lenkt. Leon kann sich mit ihm nicht messen, will so einen Kampf gar nicht provozieren, warum sollte er so verwegen sein?
Auch wenn seine Belesenheit ebenso groß ist wie die von Tomas, in manchen Fällen sogar noch größer, aber darum geht es ja gar nicht. Es geht um etwas anderes. Etwas, das nur Tomas in seinem Besitz hat und das ihm einen Vorsprung gibt. Einen nicht einzuholenden Vorsprung, wie es scheint.
»Vorsprung? Was redest du für einen Blödsinn, Leon!«
»Dann eben nicht. Vielleicht
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