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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Bewegung ließ mich einen Blick auf sie werfen. Ihr Kopf war auf die Rückenlehne gefallen, sie schlief tief und fest.
    Jetzt am Abend habe ich mein Tagebuch noch einmal von der ersten Seite an gelesen. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass es langsam einen gewissen Stil bekommt. Mein Krebs, der sicher einen täglichen Kommentar verdient, auch wenn es sich herausstellen sollte, dass es sich um etwas anderes handelt, weicht heute einer Beurteilung aus. Zumindest okular, nachdem ich ihn nicht sehen kann. Ich habe heute Morgen einen Verband darüber angelegt, vielleicht sollte ich den jetzt wechseln, bevor ich ins Bett gehe, aber er sieht so sauber und schön aus, dass ich ihn bis morgen dort lassen werde. Natürlich tut es weh, wenn ich drücke, aber nicht mehr als sonst.
    Das heutige Buch liegt vor mir auf dem Tisch, oder besser gesagt die heutigen Bücher, da es sich um ein Werk in zwei Bänden handelt. »Über das Betrachten« heißt es und ist geschrieben von einem gewissen Mordecai Singh. Ich habe weder von dem Buch noch von dem Verfasser jemals gehört, aber ich habe es trotzdem ausgesucht, zum Teil, weil es mich an die Frau vom Friedhof erinnert, zum Teil, weil es mich in gewisser Weise an Tomas erinnert. Er hat seinen Namen nicht auf das Vorsatzblatt geschrieben wie sonst, auch nicht das Anschaffungsjahr, und für einen kurzen Moment hatte ich im Kopf, dass er es vielleicht selbst geschrieben hat. Aber es wurde schon 1965 in Berlin gedruckt, was diese Theorie ausschließt.
    Auf der ersten Seite kann man jedenfalls lesen:
    Die Welt zu betrachten, ist die untadeligste aller menschlichen Tätigkeiten. Kann man doch die Mannigfaltigkeit der Welt, ihren Sinn und ihre Schönheit nicht in der Welt finden, wie auch nicht beim Betrachter, sondern allein in der Begegnung dieser beiden.
    Wenn der Mensch die Welt betrachtet, tritt er aus sich heraus und wird identisch mit seinem Erlebnis. Er wird von der Last des Ichs befreit, das sonst danach strebt, ihn hinabzuziehen und ihn in seinem eigenen Wesen zu ersticken.
    Deshalb ist es die gebotene Pflicht des Menschen, diese Begegnung zu ermöglichen, die Welt zu betrachten. Um der Welt und um seiner selbst willen.
     
    Mir gefallen diese Zeilen, wie ich merke, und ich lese sie noch einige Male, bevor ich ins Bett gehe, um sie mir ins Unterbewusstsein einzuprägen.
     

20
     
    Wir und die Fliegen
    Eine vergleichende Studie von Tomas Borgmann
     
     
 
    Vor mir auf dem Tisch sitzt eine Fliege.
    Das ist der Ausgangspunkt. Ich auf dem Stuhl, die Fliege auf dem Tisch. Wir sitzen beide ganz still. Es ist Nacht. Der Mond tritt hinter einer Wolke hervor. Die übrigen Himmelskörper ziehen in ihrer galaktischen Gleichgültigkeit dahin.
    Vorsichtig beuge ich mich vor und betrachte das Insekt aus der Nähe. Es reagiert nicht. Möglicherweise betrachtet es mich auch. Es besteht kein Zweifel für mich: Wir sind ebenbürtig. Ich und die Fliege.
    Mein ganzes Wesen protestiert gegen diesen Gedanken. Es ist eine Bedrohung meiner Existenz. Ich und eine Fliege? Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich greife zur Feder. Beginne zu schreiben.
    Um die Bedingungen klarzustellen. Die meines Lebens und die der Fliege. Ans Werk!
     
 
    Ich beginne von Grund auf. An Kategorien, an Voraussetzungen für die Überlegungen gibt es vier an der Zahl: 1. Zeit, 2. Raum, 3. Materie (individualia), 4. Allgemeinbegriff (universalia). Von diesen Kategorien ausgehend können wir alles bestimmen, was in irgendeiner Art und Weise existiert. Mit ihrer Hilfe lässt sich im Prinzip was auch immer beschreiben. Meine Frage kann so formuliert werden:
    Vorausgesetzt, dass sowohl die Fliege auf meinem Schreibtisch als auch ich selbst unikate Individuen sind, was ist es, das diese Einzigartigkeit konstituiert?
    Es ist mein Bestreben, meine emotive Auffassung, dass ich mehr als besagtes Gewürm bin, in philosophischen Termini zu rechtfertigen. Um nichts dem Zufall zu überlassen, gehe ich vom truistisch-axiomischen Niveau aus (Reinhart, 1952):
    Jede individuelle Anhäufung von Materie (ein Gegenstand) kann eindeutig von den Begriffen Zeit und Raum ausgehend bestimmt werden, da zwei Körper nicht gleichzeitig denselben Platz einnehmen können. Ein Beispiel: Im Augenblick (Zeit) befindet sich vor mir auf dem Tisch (Raum) etwas . Da der Tisch ansonsten leer ist (tabula rasa), ist hier zweifellos von der Fliege die Rede.
    Diese Individualbestimmung ist natürlich trivial und aus pragmatischem Blickwinkel gesehen unbefriedigend.

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