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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Im Folgenden werde ich diesen Typus von Bestimmung als ZeitRaum-Aspekt bezeichnen.
    Nehmen wir einmal an, dass dieses aktuelle Individuum eine Kontinuität besitzt, d.h. an und für sich selbst während mehrerer aufeinander folgender Zeitpunkte und nicht nur während einer einzigen Zeit-Raum-Kollision existiert. Das macht es wünschenswert, eben dieses in Termen von Allgemeinbegriffen (universalia) zu präzisieren, um nicht die Entität während jedes einzelnen Zeit-Raum-Abschnitts überprüfen zu müssen. Wir entscheiden uns dazu, die Erscheinung Fliege zu nennen, da wir eine Reihe charakteristischer Eigenschaften identifizieren können, die normalerweise unter diesen Begriff fallen. Die Fliege ist also insofern ein Allgemeinbegriff, kompiliert aus all den Allgemeinbegriffen, die insgesamt das Definiens des Begriffs Fliege ausmachen – beispielsweise die Eigenschaften Flugfähigkeit, sechsbeinig, klein, schwarz, mit Facettenaugen ... Exakt festzustellen, welche Allgemeinbegriffe in die Definition eingehen müssen, ist natürlich arbiträr – eher eine Aufgabe für Naturwissenschaftler denn für Philosophen.
    Wir sehen nunmehr ein, dass alle Fliegen (der gleichen Art, Familie usw.) den gleichen Satz an Allgemeinbegriffen besitzen, nicht mehr und nicht weniger. Um zwischen zwei Fliegen distinguieren zu können, benutzen wir nie die Allgemeinbegriffe im Definiens des respektiven Individuums, da sie identisch sind. Wir sind auf die unterschiedlichen Positionen der Individuen in Zeit und Raum angewiesen. Für die Unizität der Fliege ist nämlich der Zeit-Raum-Aspekt erschöpfend. Dazu wollen wir Gegenargumente suchen und gleichzeitig die Sinnwidrigkeiten betrachten:
    Ich erwachte, und das Zimmer war voller Fliegen. Ich beschloss sofort, herauszufinden, welche von ihnen mich geweckt hatte, indem sie sich auf meine Nasenspitze gesetzt hatte!
    Natürlich absurd. Ein besseres Gegenargument finden wir möglicherweise in Ausdrücken wie: Diese Schmeißfliege ist mir aber ein fetter Brocken! Oder: Dieses kleine Ding von Fliege ist aber besonders ungeschickt, sie macht nicht einmal Anstalten, sich zu verstecken, wenn ich mit der Fliegenklatsche komme! – doch auch diese beiden Anspielungen auf eine allgemeinbegriffliche Individualität können wir als unerheblich für praktisches Handeln ansehen. Stattdessen können wir explizit den Rahmen für das Leben der einzelnen Fliege formulieren:
    Der Sinn des Lebens einer Fliege ist es, eine Fliege zu sein. Nichts sonst. Die spezifische Zusammensetzung der Allgemeinbegriffe zu besitzen, die sie eben gerade zu einer Fliege macht.
    Sowie einen individuellen Zeit-Raum-Aspekt einzunehmen. Die Fliege reibt sich ihr Hinterbein. Sie hat sich nicht vom Fleck gerührt. Hat nichts begriffen. Ich hätte nicht übel Lust, sie Elias zu taufen, nach einem alten Klassenkameraden, aber hieße das nicht, meine Überlegungen ad absurdum zu führen? Der Mond ist aus meinem Fenster verschwunden. Ich zünde mir eine Zigarette an und gehe dazu über, über den Gegenstand eines Schreibtischstuhls nachzudenken. Mensch, wie edel ist doch deine Vernunft.
     
 
    Was ist nun der Sinn eines einzelnen Menschenlebens im Vergleich zu dem einer Fliege? Was unterscheidet sie? Was stellt uns über sie?
    Selbstverständlich konstituiert sich auch das menschliche Individuum durch den Zeit-Raum-Aspekt, aber mein Bestreben ist es ja, andere Kriterien zu entdecken. Ich finde es gleichzeitig unbefriedigend und es ist mir unangenehm, dass ich gezwungen bin, die Frage Wer bist du? folgendermaßen zu beantworten:
    Ich? Ich bin der Mensch, der momentan hier sitzt.
    Der Weg, der sich von dieser bizarren Antwort aus bietet, ist logischerweise der allgemeinbegriffliche, aber da es unser Ziel ist, nicht zu beweisen, dass wir Menschen sind, sondern dass wir Individuen sind, müssen wir nach unikaten Zusammenstellungen suchen, nicht nach solchen, die uns als Art definieren. Hier liegt auch genau der Unterschied an sich. Im Gegensatz zu der einsamen Fliege kann der einsame Mensch in sich eine große Menge vielfach variierender Allgemeinbegriffe inkarnieren  – eine so große Menge hoffentlich, dass gerade die Zusammenstellung ihn heraushebt und von jedem anderen menschlichen Individuum abgrenzt. Ihn einzigartig macht. Es mag paradox erscheinen, dass der Mensch sich dem Allgemeinbegriff zuwendet, um individuell zu werden, aber es gibt keinen anderen Weg vom reinen Zeit-Raum-Aspekt fort. Folgendes konstituiert also das

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