Die Fliege Und Die Ewigkeit
Authentizität an sich zu werden. Das Individuum wird zum Ideenträger reduziert. Inwieweit das gut oder schlecht ist, soll hier nicht diskutiert werden. Im Normalfall bewegt sich der einzelne Mensch zwischen einer Unzahl variierender komplexer Allgemeinbegriffe und befruchtet mal den einen, mal den anderen. Dennoch muss es stets sein Bestreben sein, vom Niederen zum Höheren zu gelangen sowie eine weit reichende Prägung in der Zeit zu suchen, so dass es nicht nur die isolierte Handlung ist, sondern eine Serie von Handlungen, ein wachsendes Muster an Handlungen, das seinem Leben den spezifischen Charakter gibt. Sich von exakt der gleichen Idee immer und immer wieder prägen zu lassen, ist aber auch mit Komplikationen verbunden. Auch wenn es uns nicht immer gelingt, kopierende Handlungen in ähnlichen Situationen zu vermeiden, so gibt es doch den Drang, zumindest zu versuchen, den tieferen Sinn dessen, was wir tun, zu verstärken, ihm eine höhere Bedeutung zu geben, es zu generalisieren. Wenn wir das ganz und gar ignorieren, könnten wir eines Tages an den Punkt gelangen, an dem eine Handlung sich nicht mehr von der anderen unterscheiden lässt ... nicht weiter als in einer einzigen Beziehung: im ZeitRaum-Aspekt der Fliege.
Unser Streben nach Situationen und Umständen, in denen die Ideen sichtbar werden, ist fast unbedingt. So ist unser Wesen. Der entgegengesetzte Weg enthält einen anderen Horror vacui; allein kraft der komplexen Allgemeinbegriffe kann von unserem Leben gesagt werden, dass es einen Sinn hat. De facto ist ja auch diese ewige Frage – nach dem Sinn des Lebens – ein Ruf nach den obersten Begriffen. Ausschließlich in deren Schutz kann ich überhaupt ein Muster erkennen. Nur als eine Instanz, die Inkarnation von etwas in Raum und Zeit Ungebundenem, kann mein Geist Flügel bekommen. Unser Sinn und unsere Gedanken sind ständig auf der Jagd danach: Das Auge sucht das Schöne, das Ohr die harmonischen Tonfolgen, das Tastgefühl nach dem Weichen, Angenehmen ... und unsere Gedanken suchen nach Verschmelzung, einem Aufgehen, der Befruchtung. In jeder Sekunde und Situation suchen wir das Sinnvolle, Ideen. Und im Augenblick des Erfolgs gibt es keinen Zweifel. Wir wissen, dass wir dort sind, wie variierend die Umstände auch sein mögen. Sehen Sie nur:
1.Es ist ein sonniger Morgen, und ich gehe auf den Markt, um Brot einzukaufen.
2.Ihm kommt eine Idee, und er bleibt am Blumenstand stehen. Er kauft ein Dutzend Rosen und bekommt das Lächeln des Mädchens gratis dazu.
3.Als es Abend wurde, zündeten wir am Strand ein Feuer an.
4.Er stürzte sich auf seinen Rivalen und begrub seinen Dolch tief in dessen Herzen.
5.Auf dem Kai zurück blieben mein Vater und meine Mutter, doch ich sah sie schon nicht mehr. Die Bilder des neuen Landes tanzten bereits vor meinem inneren Auge.
6.Es waren einmal ein König und eine Königin, die herrschten über e in weitgestrecktes, friedliches Königreich.
Muss ich noch mehr dazu sagen? Ist eine Erklärung nötig?
Wer weiß? Ich sitze still da, meinen Entwurf vor mir ausgebreitet. Die Nacht steht dunkel außerhalb meines Lichtkegels. Meine Augen brennen. Plötzlich bemerke ich, dass die kleine Fliege nicht mehr auf ihrem Platz sitzt. Sie (wieso nehme ich eigentlich an, dass sie weiblich ist?) kriecht über meine Papiere... oder spaziert darüber, genauer gesagt. Auf jeden Fall bewegt sie sich, anfangs langsam, dann immer schneller. Ab und zu bleibt sie einen Moment lang stehen und reibt sich das Hinterbein. Dann wieder los. Immer schneller. Zum Schluss promeniert sie diagonal über den Text, ich ergreife den Stift und beginne hektisch zu schreiben, um zumindest zum Schluss zu kommen, bevor sie dort ist. Bald sehe ich ein, dass sie die Schnellere von uns beiden ist ... jetzt hat sie mich eingeholt. Sie wird langsamer und folgt meiner Feder in verhaltenem Tempo, einen Zentimeter links davon, spaziert, als hätte sie alle Zeit der Welt und studiere ein Wort nach dem anderen, und jetzt ... jetzt läuft sie vorbei!
Sie bleibt ein Stück tiefer auf der leeren Seite stehen. Da sitzt sie! Erneut beuge ich mich vor und betrachte sie. Sie sieht mich geradewegs an, ihr Hinterbein ist angehoben, ein Zeichen, das ich nicht verstehe. Ich bekomme den festen Eindruck, dass sie lacht. Ja, das tut sie tatsächlich ... Langsam hebe ich meine geballte Faust. Erwidere ihr Lachen und senke meine Faust, bis sie etwa zwanzig Zentimeter über ihr ruht ... Dann schlage ich zu.
Abb.
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