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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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1: Zeit-Raum-Aspekt
     
    Da liegt sie! Ich lehne mich zurück.
    Die Nacht ist schwarz.
    Quod erat demonstrandum.
     

21
     
    DAS TAGEBUCH
     
     
 
    Mittwoch
    »Geblendet? Ja, ich wusste wohl, dass er Menschen blenden konnte, aber ich glaube nicht, dass ich dazu gehörte. Es ging nur alles so schnell, es schien, als müsste alles in diesen Monaten entschieden werden. Der Tod meines Vaters, meine Mutter, die das Haus Hals über Kopf verkaufte und zurück nach Chadòw zog ... Sie hat wieder geheiratet, noch bevor das Trauerjahr vorüber war, wusstest du das?«
    »Nein.«
    »Ihre Jugendliebe, den Sohn des Apothekers, wirklich merkwürdig. Ich blieb ganz einfach zurück, und der Einzige, der sich um meine Zukunft Gedanken zu machen schien, das war Tomas. Ja, ich nehme an, dass ich nicht richtig wusste, was ich tat, aber so handeln wir nun einmal. Nicht wahr? Wir fassen unsere Beschlüsse, wenn wir dazu gezwungen sind, es zu tun, wenn wir plötzlich dastehen, und es ist jedes Mal, ja, ich meine wirklich jedes einzelne Mal, ein Schritt ins Dunkle ... Wir zögern, solange es nur möglich ist, ich glaube, das liegt mehr oder weniger in unserer Natur.«
    Ich höre auf zu kratzen. Strecke den Rücken. Wir haben den vierten Tag. Warmer Sonnenschein am Vormittag. Wir streichen die Fensterrahmen. Ich kratze die alte Farbe ab, Marlene pinselt, ein ruhiger, eintöniger Job, der uns jedoch in unserer Situation außerordentlich zusagt. Das Gespräch ist den ganzen Morgen ungezwungen dahingeplätschert, während der Schweigepausen können wir uns in die Arbeit vertiefen, kein Wort muss in aller Hast herausposaunt werden, und so können wir uns dem Schwierigen in Kreisen und Wiederholungen nähern.
    »Nein, er hat mich nicht geblendet, absolut nicht«, fährt sie fort. »Aber ich war natürlich leichte Beute, mein Vater ist ein schrecklich dominanter Mensch gewesen, das kannst du dir ja vorstellen. Ich glaube, ich brauchte mich während meiner ganzen Kindheit nie um eine eigene Entscheidung zu bemühen. Ganz egal, mit welchem Problem ich angelaufen kam, und ich bin wirklich oft bei ihm angekommen, er hatte die Lösung. Er war irgendwie die Grundvoraussetzung für alles, ein Urgestein ... Es entstand natürlich ein wahnsinniges Loch nach ihm, das ein energischer Mann füllen konnte. Ich war jung, weißt du ... zwanzig.«
    »Ihr seid die ersten Jahre in Grothenburg geblieben?«
    »Ja, solange Tomas promovierte. Hilde wurde in dieser Zeit geboren. Ruth, nachdem wir nach Glossbrunn gezogen waren. Tomas bekam dort seine erste Stellung, das war eine ... ja, das war die lebendigste Zeit, die wir hatten ... so aktiv, dass wir gar nicht merkten, wie es um Ruth stand, bevor es zu spät war.«
    »Zu spät? Hätte sich das heilen lassen?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht auch nicht. Aber ...«
    »Ja?«
    »Aber so etwas hinterfragt man nicht weiter. Man fragt nicht, ob das eigene Kind hätte gesund werden können, wenn man selbst anders gehandelt hätte. Tomas erklärte mir das sehr eindringlich, und in diesem Punkt war ich seiner Meinung ... zumindest in diesem Punkt.«
    Wir arbeiteten schweigend eine Weile weiter. Die Sonne wärmte immer mehr. Die Möwen schrien wie üblich über dem Meer, ließen aber nicht die gleichen wilden, wahnsinnigen Schreie wie am Tag zuvor hören. Zwei junge Mädchen auf Pferden ritten am Strand vorbei und lüfteten artig ihre schwarzen Reiterkappen. Ich wischte mir den Schweiß mit dem Hemdsärmel aus dem Gesicht und dachte, dass jetzt ein Bier schön wäre.
    »Du hast nie eine Ausbildung fertig gemacht?«, fragte ich. »Du hast doch damals Sprachen studiert ...«
    »Nein, ich bin nie in die Welt hinausgekommen ... abgesehen von ein paar Monaten in Genf. Das war, kurz bevor wir hierher zogen, kurz bevor er zusammenbrach.«
    »Zusammenbrach?«
    »Ja, er erlitt eine Art Nervenkollaps. Das war der Grund, warum er sich zurückgezogen hat. Es wurde nicht darüber gesprochen, es gab keinen Grund ... aber für mich bedeutete es, meinen Job aufzugeben, in einem Übersetzungsbüro, Englisch, Französisch, Italienisch. Nicht besonders anspruchsvoll, aber es gefiel mir gut dort.«
    »Ist er früher schon krank gewesen?«
    »Nie. Dennoch hat es mich nicht sehr überrascht. Das mag merkwürdig klingen, aber ich muss geahnt haben, dass so etwas irgendwann kommen würde. Ich glaube übrigens, dass auch Hilde es voraussah, ja, das hat sie wirklich. Nach einer ihrer ausufernden Streitereien sagte sie, als wir in der

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