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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht ist er zur Toilette.«
    Die Repliken werden noch einige Male gedreht und gewendet, dann geht man wieder hinein. Tomas sitzt auf seinem Platz und macht sich Notizen, da steckt er also, aber gerade als Anderson die Sache aufgreifen will, ist Hockstein zurück.
    »Hinterher im Vlissingen?«, flüstert Anderson, aber Tomas antwortet nicht.
    Leon lässt sich neben ihm niedersinken und hat plötzlich das Gefühl, außen vor zu sein. Es ist sowohl ein altes als auch ein neues Gefühl, und es lässt ihn den gesamten zweiten Teil der Vorlesung nicht mehr los. Gleichzeitig ist er sich nicht sicher, ob er überhaupt drinnen sein wollte.
    Drinnen von was?, denkt er.
     
     
    Sie trennen sich unterhalb der Junostatue im Leisnerpark. Vielleicht hatte Leon ja erwartet, dass sie noch in ein Café gehen, zumindest ein paar Stunden zusammen verbringen würden. Sie hatten sich während der Ferien nicht gesehen. Leon war daheim gewesen in K., Tomas hatte Weihnachten und Silvester auf dem Bischofssitz in Würgau gefeiert – aber daraus wird also nichts. Tomas hat andere Pläne, das ist ganz offensichtlich, und die Frage kommt gar nicht auf.
    »Ich höre Sonntagabend von dir«, sagt er, das ist alles.
    Er hebt die Hand zum Abschied und biegt ab, den gefrorenen Bach entlang. Leon bleibt einen Moment lang stehen und schaut ihm nach, dann schlägt er seinen Mantelkragen hoch, schiebt die Hände in die Taschen und macht sich auf den Weg Richtung Zentrum.
    Ein kalter, rauer Wind fegt durch die Straßen, und kurze Zeit überlegt er, ob er nicht trotz allem irgendwo hineinschlüpfen und etwas Wärmendes zu sich nehmen soll. Doch nein. Es kommt nicht einmal so weit, dass er zögernd irgendwo in der Tür steht. Allein in ein Lokal zu gehen, das ist nichts für ihn. Außerdem erscheint es Leon nicht besonders verlockend, mit den anderen im Vlissingen zu sitzen, wenn Tomas nicht dabei ist, so ist es nun einmal ... nein, zweifellos ist es das Beste, einfach nach Hause zu gehen.
    Er schlägt den Weg über Kooners Buchladen ein. Kauft sich einen neuen Satz Stifte und einen Schreibblock, und nach einer halben Stunde ist er wieder in seinem Zimmer im Bastilje. Er kocht sich einen starken Tee und setzt sich mit seinen Vorlesungsnotizen hin. Er liest einige Absätze, auf die der Professor verwiesen hat, schreibt seine Notizen ins Reine, geht die Literaturliste fürs Frühjahrssemester durch. Er hat alle Bücher bereits im Herbst gekauft, jetzt holt er sie aus dem Regal. Legt alles zur Ansicht auf den Schreibtisch.
    Ein schöner Anblick, zweifellos, etwas rührt sich in ihm auf Grund der Bücher. Dieses sublime Konzentrat menschlichen Strebens und menschlicher Größe, denkt er mit Hilfe geliehener Worte von einem Buchrückentext. Schön und verlockend, aber auch ... erschreckend?
    Ja, möglicherweise. Wird es ihm wirklich gelingen, sich das alles anzueignen? Das ist die Frage. All diese so kompliziert gearteten Gedanken.
    Das meiste hat er zwar bereits gelesen, aber nur oberflächlich. Jetzt geht es darum, auf den Grund zu gelangen. Zu verstehen und zu Einsichten zu gelangen. Alles in Zusammenhang zu bringen und zu seinem eigenen privaten Besitz zu machen. Er holt tief Luft, das ist nicht immer so einfach.
    Er entscheidet sich für ein ziemlich dünnes blaues Buch von E. S. Sparrow: »Wissenschaftstheoretische Elemente«, holt sich zwei Äpfel von der Kommode und streckt sich auf dem Bett aus.
     
     
    Doch, Leon kann sich an dieses Wochenende sehr gut erinnern. Er liest Sparrow und andere, er isst zweimal unten im Restaurant, macht am Samstagnachmittag einen langen Spaziergang in die Wälder von Rymont – um dem unersättlichen Bedarf seines Gehirns an frischem Sauerstoff nachzukommen  –, und er schreibt einen Brief an seine Cousine Judith, die er während der Weihnachtstage zum ersten Mal seit zwölf Jahren wieder gesehen hat.
    Letzteres wird ihn am Sonntag eine ganze Weile beschäftigen, da es kein so einfacher Brief ist, den er da schreibt. Es besteht kein Zweifel, dass Judith während der kurzen Zeit ihres Zusammentreffens – drei oder vier schnell verflogene Stunden nur – etwas für Leon empfunden hat. Er muss sich jetzt darum bemühen, den Schaden so weit wie möglich zu begrenzen. Irgendwelche Ambitionen, ihr Feuer zu schüren, hat er ganz und gar nicht. Sicher, sie ist ein süßes junges Mädchen (mit einer fast greifbaren Aura unbefriedigter Lust um sich herum obendrein), aber vor der

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