Die Fliege Und Die Ewigkeit
aus. Er kommt zurück, setzt sich auf den Schreibtischstuhl, mit dem Rücken zu Leon.
Zehn Minuten vergehen, vielleicht eine Viertelstunde. Ohne dass einer von ihnen ein Wort äußert. In gewisser Weise ist das der sonderbarste Zeitabschnitt in Leons Leben, denn ganz plötzlich dreht Tomas sich auf seinem Stuhl herum, wendet sich ihm zu, betrachtet ihn einen kurzen Augenblick lang, steht dann auf und geht zu ihm. Umarmt ihn und gibt ihm einen Kuss.
Es ist ein harter, fast brutaler Kuss, aber nichtsdestotrotz ist es ein Kuss. Es vergehen einige Sekunden, dann kehrt Tomas an den Schreibtisch zurück und arbeitet weiter.
Als er sich nach einer Weile eine neue Zigarette anzündet, räuspert Leon sich.
»Ich glaube, ich komme lieber morgen wieder.«
Tomas dreht sich um. »Morgen? Ja, gut! Das ist ausgezeichnet... wir treffen uns zur Vorlesung, und dann können wir hinterher ins Vlissingen gehen. Ich muss nur noch ein paar Stunden arbeiten ...«
Leon begibt sich nach Hause. Er trinkt eine ganze Kanne Tee und versucht sich wieder auf Sparrow zu konzentrieren, was ihm aber nicht so recht gelingt. Als er schließlich ins Bett geht, bleibt er noch lange wach liegen und denkt an die Sache mit dem Innen und dem Außen. Er ahnt, dass das ein ziemlich schlechtes Bild seiner Situation ist, aber er bekommt es nicht in den Griff.
23
D ie Nacht ist das Spielbrett des Vergessens.
Bereits am nächsten Morgen verläuft alles wieder in normalen Bahnen. Es ist einer von mehreren knackend kalten Tagen. Zu Dozent Winckelhübes Vorlesung über Kants Kritik der reinen Vernunft findet sich Tomas auf die Sekunde genau ein, wie üblich gekleidet: Bärenmütze, langer Mantel und Schal, der über den Boden schleift. Er hört aufmerksam zu, macht sich Notizen und stellt Fragen, als hätte er nie etwas anderes getan, und hinterher gehen sie gemeinsam ins Vlissingen. Hier besteht er darauf, ihn zum Glühwein einladen zu dürfen, und erklärt, dass das, was am Wochenende passiert ist, als ein isoliertes Phänomen anzusehen ist. Eine Parenthese.
»Gewisse Kräfte haben sich in mir akkumuliert, ich war gezwungen, sie zu befreien. Du musst das verstehen, Leon, das wird sich nicht wiederholen.«
Das ist offensichtlich eine Entschuldigung, und Leon merkt schnell, dass Tomas nicht mehr zur Sache sagen will. Als er versucht, etwas über das Resultat zu erfahren, das Ergebnis von all dem, wird sein Freund schweigsam und windet sich. Er will Leon nicht an den Früchten seines Schreibens teilhaben lassen, um welche Früchte es sich auch immer handeln mag, das ist ganz deutlich. Leon drängt ihn nicht weiter, sie gehen zu anderen Themen über.
Nach einer Weile kommt Anderson vom schwarzen Sofa herangeschlendert und teilt mit, dass Filipopov mit Borgmann bei einem Glas Punsch über die Fliegen diskutieren möchte, doch Tomas schüttelt nur den Kopf. Er bezahlt, und die beiden verabschieden sich. Dann schlagen sie ihre Mantelkrägen gegen den Wind hoch und begeben sich zur Bastilje, um den alten Kant in alle Richtungen zu drehen und zu wenden. Den Kuss erwähnt keiner auch nur mit einem Wort.
Dann nimmt das Frühlingssemester an Geschwindigkeit zu. Im Kreis um Filipopov und Proszek wird die Frage Hockstein und Borgmann betreffend manchmal erwogen. Leon kann gar nicht umhin, etwas davon aufzuschnappen, auch wenn sie sich wie üblich in ihren eigenen Umlaufbahnen bewegen, Tomas und er. Sie sind das gleiche isolierte Duo wie während der Herbstmonate, das gleiche Gespann, aber jetzt ist zu spüren, dass man sich doch in der Gruppe über gewisse Dinge wundert.
Über »Wir und die Fliegen« beispielsweise. Natürlich ist es ein Rätsel, wie es diesem verdammten Borgmann gelungen ist, so etwas im Philosophischen Bulletin zu veröffentlichen, das doch wahrlich nicht bekannt dafür ist, Scherze abzudrucken. Andererseits ist es schwer, sicher zu sagen, was ein Scherz und was Ernst ist. Niemand hat gewagt, die richtigen Philosophen dahingehend zu befragen, die Dozenten Friijs und Niedermann, den Lektor Weill oder den Assistenten Schenk, der außerdem der verantwortliche Herausgeber ist ... und Tomas selbst, ja, er war in keiner Weise gewillt, einen Kommentar abzugeben. Er zuckt nur mit den Schultern, wenn die Frage aufkommt, oder aber er fängt an, von etwas anderem zu sprechen.
Höchstwahrscheinlich glaubt man, dass Leon weiß, wie es sich tatsächlich verhält, aber dem ist ja nun einmal nicht so. Er ist genauso unwissend, steht ebenso im
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