Die Fliege Und Die Ewigkeit
Regen wie alle anderen, und auch er begreift nicht so recht, was da zwischen Tomas und Professor Hockstein vor sich geht. Dass da eine Art von Kräftemessen abläuft, dass es eine ganz besondere Spannung und elektrische Ladung gibt, das ist ihm natürlich auch klar, aber so etwas zu bemerken, das kann ja selbst einer wie Lübbisch nicht vermeiden.
Es ist ein merkwürdiger Frühling. Es war bereits früh ein merkwürdiges Jahr.
Die Freitagsexamina machen den Dreh- und Angelpunkt der Woche aus. Und das immer deutlicher, je weiter das Semester voranschreitet. Darüber herrscht auch gar kein Zweifel. Die Freitage sind das Ziel, alles andere nur das Mittel. Und von Termin zu Termin werden das Niveau und die Stringenz ein kleines bisschen angezogen und verschärft. Der Druck nimmt zu, wie es scheint, und sowohl Leon als auch Tomas wissen, dass es einige gibt, die in der Nacht vor diesen schicksalsträchtigen Plena nicht besonders gut schlafen.
Denn es geht darum, nicht zu versagen. Sich nicht zu blamieren und keinen Blödsinn zu reden, die Worte geschickt balancieren zu können, ja, tatsächlich ist es besser, zu schweigen als falsch zu reden. Und es gibt sowieso nicht viele, die sich äußern, wenn der Professor das Wort freigibt ... Leon und Tomas natürlich, Kellerby und Filipopov manchmal, aber die meisten begnügen sich, wie Leon bereits nach wenigen Wochen notiert, mit einem undeutlichen Gemurmel, einem nachdenklichen Nicken oder einer unleserlichen Notiz. Lieber das, lieber sich auf einen dicken Wollschal und eine akute Halsentzündung berufen, als das eigene Unvermögen ins Rampenlicht zu stellen. Gewiss keine heroische Taktik, aber vielleicht auch nicht ganz so schlecht im philosophischen Licht betrachtet.
Gegen gewisse Dinge kann man sich einfach nicht verteidigen. Beispielsweise gegen die Überrumpelungsattacken:
»Sie haben Bradleys Angriff auf Rozensteins Paradigmenbegriff gelesen. Nun? Trägt er oder nicht? Pro und contra! Giertz, bitte!«
Die Frage wird bereits in dem Augenblick in den Raum geworfen, in dem der Professor über die Schwelle tritt. Der Witz dabei ist natürlich, dass sie nicht einmal Zeit gehabt haben, überhaupt zu begreifen, dass er sich schon im Raum befindet ... und bereits nach einer halben Minute ist allen klar (denjenigen, die es nicht schon vorher gewusst haben), dass dieses Semester Giertz’ letztes Semester im Philosophicum gewesen sein wird.
Er bekommt natürlich eine gewisse Bedenkzeit (und Borgmann kann die Hand runternehmen!), aber das einzige, was zu hören ist, das ist der Kamin unter Sokrates. Es steht fest, dass der Winter sich in diesem Jahr bis weit in den März hineinziehen wird, und zumindest Ritz kann sich nicht daran erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben.
»Giertz kann sich setzen!«
Hockstein macht sich Notizen. Bei jeder Gelegenheit macht er sich Notizen. Sobald sich jemand äußert oder es vermeidet sich zu äußern, kritzelt er irgendwelche Notizen auf seinen Block, der immer auf dem Tisch vor ihm liegt. Was er schreibt, das weiß man nicht. Es ist noch nie jemandem gelungen, eine einzige Silbe dieser unergründlichen Kommentare zu lesen, doch je mehr Zeit vergeht, je lauter der Kamin donnert und die Freitage sich stapeln, umso mehr wird darüber spekuliert, was dort wohl geschrieben steht. Über das Ergebnis, das zusammengetragene Gewicht, das, was schließlich den Ausschlag geben wird ... oder worum es auch immer gehen mag.
Und ehrlich gesagt – je länger das so läuft, umso offensichtlicher wird es ja wohl, oder? Auch wenn Leon auf noch so merkwürdige Art und Weise fremde und objektive Sichtweisen vorzuweisen hat, so geht es doch um ihn und um Tomas. Delmas und Borgmann.
Das ist nicht zu leugnen. Jedenfalls nicht, wenn er jetzt zurückblickt, und schon damals nicht, als er mittendrin steckte. Warum Schüchternheit heucheln? Warum sein Licht unter den Scheffel stellen? Sie haben sich im Herbst hervorgetan, und das machen sie auch im Frühjahrssemester. Sie lesen alle Texte. Sie verstehen sie und können auf Fragen dazu antworten. Sie studieren Referenzen und Kommentare, zumindest soweit es möglich ist, und Tomas ... ja, Tomas, er entlarvt wie üblich Widersprüche und Schwächen und findet unvorhersehbare Implikationen und Komplikationen auf eine Art und Weise, die selbst Hockstein ab und zu die Augenbrauen heben lässt. Zumindest eine.
Und das sollte nicht notiert werden? Unwahrscheinlich.
Und wer wollte den Kampf aufnehmen? Wer?
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