Die Fliege Und Die Ewigkeit
wichtigen Prüfung, die vor der Tür steht, hat er ganz einfach keine Zeit für derartige Komplikationen. So ist es nun einmal. Prämisse und Schlussfolgerung. Das mag lächerlich klingen, aber in diesem Frühling gibt es keine Zeit für Zögern und Kompromisse.
Als die Uhr von St. Jacob am Sonntagabend sechs schlägt, hat er zumindest so einiges zu Wege gebracht und begibt sich wie verabredet hinüber zu Tomas.
Drei lange Male läutet Leon an der Tür, aber nichts rührt sich. Er will gerade auf den Hacken kehrt machen und wieder nach Hause gehen, als die Tür weit aufgerissen wird.
Ihm bietet sich ein merkwürdiger Anblick, der noch lange in ihm haften bleiben wird. Im allerersten Augenblick erkennt er seinen Freund nicht einmal wieder. Ihm schießt sogar der Gedanke durch den Kopf, er könnte an der falschen Tür geklingelt haben. Ist das wirklich Tomas Borgmann?
Einen offenen Bademantel trägt er. Unterhosen, Pyjamajacke, er ist barfuß ... die Haare stehen ihm zu Berge, die Bartstoppeln sehen in dem bleichen Gesicht fast bläulich aus. Seine Augen zeigen keinerlei Ausdruck, höchstens Verwirrung. Er bleibt stehen, lehnt sich an den Türrahmen und sieht Leon mit abwesendem Blick an. Als hätte er ihn nie zuvor gesehen und keine Ahnung, worum es eigentlich geht.
Unbewusst ist Leon einen Schritt zurückgewichen und fällt fast die Treppe hinunter, er bekommt das Geländer zu fassen und gewinnt so das Gleichgewicht wieder. Doch er findet keine Worte für seine Verwunderung, steht nur da, ebenso stumm und starrend wie Tomas. Niemals hat er sich vorstellen können, niemals hat er ...
Dann kommt Tomas plötzlich zu sich. Bindet sich den Bademantelgürtel zu und lacht. Packt Leon bei den Schultern und zieht ihn in die Wohnung hinein.
»Ja, natürlich ... ich habe ganz vergessen, dass du vorbeischauen wolltest. Entschuldige, hier sieht es ziemlich schlimm aus. Ich habe gearbeitet ... gearbeitet wie verrückt.«
Über das ganze Zimmer liegen Unmengen von Papieren verstreut. Viele voll beschrieben, aber auch einige leere Seiten, zerknüllt oder zerrissen. Auf dem Schreibtisch sind mehrere Bücher aufgeschlagen, ebenso auf dem Sofa und den Sesseln. Vom Schlafzimmer her sind Streicher zu hören... Copland oder Janowski wahrscheinlich ... mehrere Plattenhüllen fahren auf dem Boden herum. Leon schaut sich in dem Durcheinander um. Er weiß nicht, was er sagen oder tun soll. Tomas steht nur da, ist wieder verstummt.
»Was machst du da?«, bringt Leon schließlich heraus, als ihm klar wird, dass Tomas nicht daran denkt, ihn ins Bild zu setzen.
»Arbeiten, mein Lieber. Arbeiten ...« Er hebt ein paar Bücher auf und lässt sich aufs Sofa fallen. »Ich habe seit Freitag ein paar Pfeifen geraucht, aber es hat auch was gebracht. Verstehst du?«
Leon schüttelt den Kopf. Erst jetzt nimmt er den Geruch wahr, der sich in seinen Nasenflügeln befindet, seit Tomas die Tür geöffnet hat ... und dessen unglaublich winzige Pupillen. Zusammengezogen zu zwei Stecknadelköpfen. Pfeifen? Was für Pfeifen?
Tomas räuspert sich. »Ich will dich da nicht mit reinziehen. Ich musste einfach schreiben ... um den Druck zu lösen, es gibt so einen verdammten Druck hier drinnen, kapierst du?« Er klopft sich mit den Zeigefingern auf die Stirn. »Kannst du dir vorstellen, wie anstrengend das ist, immer diese abscheulichen Umwege einschlagen zu müssen? Sich immer in diesen ganzen zähen Sumpf begeben zu müssen! Immer dieses Zeug konsumieren zu müssen, dieses vermeintlich ... dieses ... dieses ... wenn man alles von Anfang an klar vor Augen sieht! Wenn ihre Schlussfolgerungen die eigenen Ausgangspunkte sind? Dass man nicht direkt ans Ziel gehen darf ... dass ... dass ... ja, kannst du das verstehen?«
»Ja, vielleicht ... aber ...«
Leon weiß nicht, was er sagen soll. Tomas zündet sich eine Zigarette an und fängt an, zwischen den verstreuten Papieren zu suchen. Vielleicht will er Leon etwas zeigen, es scheint ganz so, aber bald ist er damit beschäftigt, drei oder vier verschiedene Texte miteinander zu vergleichen ... Leon sitzt in seiner Sofaecke und wartet. Er wirft einen Blick auf einige Seiten, die vor ihm auf dem Tisch liegen, wird aber nicht schlau aus ihnen. Gekritzel und Durchstreichungen, hinweisende Pfeile kreuz und quer überall, aber auf jeden Fall Tomas’ charakteristische weit ausladende Handschrift, daran besteht kein Zweifel. Nach einer Weile geht Tomas ins Schlafzimmer und stellt die Musik
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