Die Fliege Und Die Ewigkeit
glühende Koksstücke von Augen.
Er genügt nicht. Ist nicht in der rechten Form gegossen, so einfach ist es. Er ist nur, und das ein für alle Mal, ein Produkt des schlechten Gewissens von Onkel Aris, und kein Deut mehr.
Und trotzdem, vielleicht ... nein, weg mit diesen Gedanken! Es muss inzwischen halb fünf sein, er kann die Vögel draußen vor seinem Fenster lärmen hören, und morgen ist wieder Freitag ... warum ist er nicht einfach dankbar, dass es trotz allem einen Punkt der Entscheidung gibt? In einem Monat wird er unter allen Umständen die Waagschale hinter sich haben, dann ist das Mai-Examen überstanden. Welchen Sinn hat es also, hier wach zu liegen und in die langsam sich auflösende Dunkelheit zu starren?
Natürlich ist es das letzte Frühjahr, und natürlich stand das schon in viel stärkerem Maße fest, als er es jemals begriffen hat, und dennoch, hier und jetzt, es ist doch alles so, wie es sein soll, oder? Sie pauken zusammen, Borgmann und Delmas, sie hocken Abende und Nächte hindurch beieinander, rauchen, lesen und argumentieren, sie gehen ins Vlissingen, zu Kraus und ins Rejmershus, wie sie es die ganze Zeit getan haben, wenn auch nicht so oft wie im Herbst. Nicht ganz so oft.
Trotzdem hat er so ein Gefühl.
Vielleicht hat er auch nicht so ein Gefühl. Hat nie eins gehabt. Im Nachhinein kann er das nicht mehr sagen.
Natürlich hat Tomas so seine Momente. Nicht viele, nicht so lange, aber etwas zu bedeuten haben sie ja wohl doch? Dann zieht er sich von allen und allem zurück. Lernt in seinem Zimmer und ist für alles und alle unzugänglich ... kommt ein paar Tage später wieder zum Vorschein. Ohne Bartstoppeln und stechende Pupillen, aber auch ohne ein Wort der Erklärung.
Es kommt Leon in den Sinn, dass er ihn seit einem halben Jahr kennt. Erst seit einem halben Jahr! Es ist ein Gefühl, als wäre es ein halbes Leben, und er wünschte sich, dass dem nicht so wäre.
Und übrigens, warum sollte Tomas eine Erklärung schuldig sein? Er braucht diese Tage der Isolation, nicht mehr und nicht weniger, es ist nicht Leons Sache, sich Sorgen zu machen. Hinterher ist er immer so sonderbar aufgekratzt, fast wie nach einer Art Reinigungsbad ... Er kann alles, was er will, analysieren, wie es scheint, seine Zunge ist schärfer und gewandter als je zuvor, er verbeißt sich mit unbegreiflichem Enthusiasmus frenetisch in neue Probleme und Projekte.
Leon lässt ihn auch mit dieser Frage in Ruhe ... denn worum es sich auch immer handelt, welch geheimnisvollen Namen der Gegner auch tragen mag, so ist es Leon klar, dass Tomas allein mit ihm kämpfen muss. In Freud und Leid? Wohl kaum. Warum sich einbilden, er könnte etwas dazu beitragen? Die Voraussetzungen sind für beide klar, sowohl für ihn als auch für Tomas, waren es schon immer, und Leon hat nie die Absicht gehabt, Tomas Borgmann auf jedem seiner neu entdeckten Pfade zu folgen, ganz gewiss nicht ... das wäre ja nun wirklich vollkommen widersinnig.
Eines frühen Morgens ruft er Leon an.
»Jetzt hab ich’s, Leon!«, erklärt er. »Wenn ich nur eine einsame Insel und eine bessere Schreibmaschine hätte, dann bräuchte ich nicht mehr als drei Wochen!«
Und als Leon einige Stunden später aufwacht, kann er nicht gleich begreifen, warum er von dieser gigantischen Schreibmaschine geträumt hat, die in Wind und Wetter mitten im Atlantik herumtreibt.
Aber schließlich ist die Nacht ja auch die Schattenseite der Erinnerung.
24
A uch nach der letzten Vorlesung hat Leon immer noch keine Entscheidung getroffen.
Nach K. heimfahren oder hier bleiben und pauken? Das ist die Frage.
Die Osterferien sind zehn Tage lang. Eine Unterbrechung wäre willkommen, daran herrscht kein Zweifel, aber kann er sich das wirklich leisten? Wagt er es, die Texte liegen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er den Faden schon wieder finden wird, wenn er zurückkommt? Daheim bei seiner Mutter zu lernen, daraus wird nicht viel, das weiß er aus Erfahrung, also entweder ... Entweder oder.
»Komm doch mit mir nach Würgau!«, schlägt Tomas plötzlich vor, als sie gerade in den Leisnerpark einbiegen. »Ich fahre morgen früh!«
»Ja, gern, aber ...«
»Kein Aber! Wir bleiben nur fünf, sechs Tage. Nimm den Heidegger und den Machelmas mit, der Rest kann liegen bleiben!«
Und so ist die Sache entschieden. Zwar stopft Leon den Ladno und den Husserl auch noch in die Tasche, aber am nächsten Tag sitzen beide im Zug nach Osten.
Es wird eine
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