Die Fliege Und Die Ewigkeit
Man muss zugeben, dass sie diese Frage die eine oder andere Nacht aufgreifen.
Filipopov? Nun ja, er hat gewiss so seine hellen Momente... und Jansen weist hin und wieder zweifellos gewisse Anlagen auf, aber einen wirklich einheitlichen Eindruck vermag keiner von ihnen aufzuweisen. Proszek tritt natürlich ab und zu fast so glänzend wie Tomas auf, aber im Grunde genommen hat er an Philosophie ebenso wenig Interesse wie an allem anderen. Und Lübbisch, der arme Lübbisch, der an und für sich sowohl Talent als auch Ambition hat, zumindest Letzteres, hat einmal während einer überfallartigen Attacke Anfang Februar Feuerbach und Hegel miteinander verwechselt. Eine peinliche Geschichte, bei der der Kamin so glühend heiß wurde, dass sogar Sokrates zu erröten schien. Seitdem ist Lübbisch dazu übergegangen, meistens die Stirn zu runzeln und murmelnd seine Notizen zu machen.
Tomas und Leon, also. Borgmann und Delmas.
Aber man kann ja nichts als gegeben nehmen. Darf keine voreiligen Wechsel auf diese vagen Prämissen ausstellen, und trotz des Grollens und der Glut gibt es natürlich noch eine Wasserscheide. Noch ein Nadelöhr.
Das Mai-Examen. Die schriftliche Abschlussprüfung.
Für die meisten ist es natürlich die Frage, sie überhaupt zu bestehen. In erster Linie durchzukommen und zu bestehen.
Doch für Tomas und Leon geht es um mehr.
Um die Empfehlung. Um Professor Hocksteins Empfehlung, doch weiterzumachen, weiterzustudieren ... diesen auserlesenen Gesellenbrief. Wer weiß, ob er überhaupt in diesem Jahr ausgeteilt wird? Wenn der strenge Richter der Meinung ist, dass es nicht genügt, ja, dann genügt es eben nicht! Und Hockstein ist derjenige, der die Fragen komponiert, und Hockstein ist es, der die Antworten beurteilt. Offensichtlicher kann es nicht sein.
Das Mai-Examen. Das Zünglein an der Waage.
In diesen Frühlingsnächten wacht er oft auf. Bleibt dann liegen und kann nicht wieder einschlafen. Nicht lange, eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde.
Doch immer in den frühen Morgenstunden.
Später, im Gefängnis, wird ihm das Gleiche zustoßen. Ab und zu. Diese schlaflose Stunde zwischen drei und vier.
Er verzweifelt und stellt sich Fragen. Sowohl in der Bastilje als auch im Gefängnis. Der einzige Unterschied besteht in dem Jahrzehnt dazwischen.
Was geht eigentlich vor sich?
Was hat er denn nie verstanden? Gibt es überhaupt einen Sinn?
Ja, was gibt es im innersten Inneren? Was lenkt Tomas Borgmann beispielsweise, welche Triebkräfte und welche Beweggründe? Was geht da zwischen ihm und Professor Hockstein vor sich, dieses Schauspiel, das Leon nur erahnen kann? Vielleicht ist es eine Serie kleiner, winzig kleiner Schritte, wie er manchmal glaubt, jeder Einzelne davon so diminutiv, so infinitesimal, dass es unmöglich ist, sie voneinander zu unterscheiden, deren gesammelte Existenz jedoch zu registrieren ist als ... als eine geradezu greifbare Tatsache?
Oder passiert alles ganz plötzlich? Später?
In dem Moment, als alles zusammenstürzt?
Wovon redet er? Ist im Grunde genommen alles trivial?
Die Nacht ist das Spielfeld des Unergründlichen.
Diese Fragen! Diese eigenartige Bewegung in der Luft in diesem kalten, unbegreiflichen Frühling, viel abwegiger, viel unwirklicher ... Gedanken, die einfach auftauchen und sich festklammern, unangekündigt und kompliziert formuliert. Gedanken, so erschrocken über die Möglichkeit ihrer Vernichtung wie alles andere Lebende. Ursache und Wirkung? Die Zielrichtung der Zeit? Die Möglichkeit einer Negation?
Und sein eigener Kopf! Wenn er nur die Bücher für eine Weile ruhen lässt, wenn er nur für einen Moment aufwacht, dann ist sie da, die Frage nach seinen eigenen Fähigkeiten. Sein Gehirn, das alles aufnehmen und in dem alles für die letztendliche Schlussfolgerung gesammelt werden soll ... wie kann das ausreichen?
Hat er wirklich – Hand aufs Herz aufs Haupt – die notwendigen Voraussetzungen? Kann er wirklich fortsetzen, die Lücken durch emsiges Lesen bis in alle Ewigkeit zu kompensieren? In bestimmten Augenblicken, wenn die Texte vor seinen brennenden Augen zu einem einzigen Sammelsurium zusammenfließen, kann er zu der Ansicht gelangen, dass es doch für jeden ganz offensichtlich sein muss, dass er in all seiner nackten Verletzlichkeit für jeden, der in der Lage ist, sich die Mühe zu machen, einmal ordentlich hinzuschauen, erkennbar sein muss. Nicht zuletzt für Professor Hockstein. Für dessen
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