Die Fliege Und Die Ewigkeit
sonderbare Woche, ja, er hat den Ausdruck hin und her gedreht und keinen besseren gefunden. Sonderbar. Aus Zeit und Raum geschnitten, genau so wird er sich daran erinnern ... ihre Freundschaft wird nur noch einen Monat lang existieren, vermutlich, nein, ganz gewiss ist das sogar ihr Höhepunkt.
Der Höhepunkt einer Freundschaft? Vielleicht klingt das bizarr, er kann es nicht sagen. Das Wort klingt verloren, und im Laufe dieser Tage ertappt er sich immer wieder dabei, wie er peinlich berührt ist wegen des Zweifels, den er in letzter Zeit gespürt hat. Wegen seines Zögerns und der nächtlichen Überlegungen.
Der Bischof ist außer Landes, wie sich herausstellt, nun ja, Tomas hat das natürlich schon vorher gewusst. Vielleicht war das sogar eine Voraussetzung für Leons Besuch. Sie haben keinerlei Pflichten, können sich mit Hilfe von Eustacia, der rumänischen Haushälterin, die Augen und Nase wie ein Adler und ein Herz aus Gold hat, selbst versorgen.
Fast die gesamte Zeit sind sie draußen. Der Frühling ist endlich wirklich eingetroffen, die Erde schwillt unter ihren Füßen an, und der Himmel ist hoch. Sie wandern in den Bergen und angeln im Fluss, und Leon ist klar, dass man derartige Tage nur ein einziges Mal im Leben erlebt. Höchstens. Sie sprechen darüber und über die Kunst, sich in Acht zu nehmen.
Über viele andere Dinge sprechen sie natürlich auch. Über Epistemologie, über logischen Empirismus, über Quine und Lebensdorff ... und es ist klar, dass diese Gespräche plötzlich einen neuen, frischeren Charakter annehmen, verglichen mit den eingeschliffenen Diskursen in Grothenburg. Auch wenn die Fragen natürlich die gleichen sind und die Antworten nicht eben sehr viel anders. Vielleicht liegt es nur an der Waldluft und dem klaren Wasser in den Fluten und an dem Sonnenlicht, dem es gelingt, dem allen einen illusorischen Schimmer von Prägnanz und Schärfe zu verleihen. Einen Hauch frischgeschöpfter Ursprünglichkeit. Oder etwas in der Art. Weiß der Teufel, denkt Leon, schönes Wetter ist bekanntermaßen der schlimmste Feind der Vernunft. Wie auch immer, jedenfalls bringt Tomas während dieser Wanderungen das Gespräch auf einen ganz besonderen Gedanken, eine einfache, ziemlich unkonventionelle These eigentlich, doch er kommt immer wieder auf sie zurück und präsentiert sie in vielen variierenden Verkleidungen.
»Zu handeln«, sagt er, »das ist alles! Etwas anderes kommt gar nicht in Frage, Leon. Wir dürfen das nie von anderen Dingen überschatten lassen. Das ist etwas Absolutes, verstehst du? Sprache ist Luft, Wissenschaft ist allerhöchstens Wasser, aber Handlung, das ist fester Boden!«
Nein, irgendwelche unmittelbaren Einwände kann Leon nicht vorbringen. Die Sonne wärmt ihm das Gesicht.
»Es gibt nur eine Art und Weise, sich selbst zu leugnen!«, ruft Tomas, um das brausende Wasser zu übertönen. »Nur eine Art, sich unverzeihlich seinem eigenen Wesen gegenüber zu versündigen. Es zu unterlassen, zu handeln!«
Leon nickt und spießt einen neuen Köder auf den Haken.
»Wir gelangen ständig an Punkte, an denen wir entweder handeln müssen oder untergehen. Sich dieser Punkte bewusst zu sein, mitzubekommen, wann wir an so einem Punkt angelangt sind, das ist das Wichtigste von allem!«
Auch nachdem sie wieder in Grothenburg sind, findet Tomas immer wieder Gelegenheiten, auf dieses Thema zurückzukommen. Mit wachsender Begeisterung, wie Leon meint, und mit einem Eifer, sein Gegenüber zu überzeugen, der ihm gar nicht ähnlich sieht. Die Flora der Anwendungsmöglichkeiten und Beispiele ist reichlich wildgewachsen:
»Als ich neu hier in der Stadt ankam, da habe ich an einem dieser lauen Abende einen Spaziergang durch das Universitätsviertel gemacht. Unbewusst oder bewusst richteten sich meine Schritte aufs Philosophicum, und als ich mich ihm näherte, da sah ich zu meiner Verwunderung, dass in der Bibliothek eine Lampe brannte. Wer kann das sein?, fragte ich mich. Es war schon nach sieben Uhr, im August. Ich blieb einen Augenblick draußen auf dem Fußweg stehen und dachte nach. Was sollte ich tun? Einfach weiterlaufen oder hineingehen und nachsehen? Nun, du weißt, was daraus geworden ist!«
Das kann Leon nicht leugnen, und er tut es auch nicht.
Dann kommt dieser Abend.
Zwei oder drei Tage nach ihrer Rückkehr aus Würgau geschieht es. Leon meint sich zu erinnern, dass es der letzte Ferientag ist. Sie sitzen an ihrem üblichen Tisch bei Arno’s. Den ganzen
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