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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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sie.
    Minnie ließ ihre Finger durch die Buchseiten gleiten, denn sie wollte nur eines wissen – welcher Name vor Kai stand.
    Unbewusst hielt sie den Atem an.
    Dann las sie die Antwort: Otto . Der Name ließ sie aufatmen. Ihre Freunde lebten alle noch. Und heute würde der Gospelchor kommen.
     
    Marisabel Prinz saß im Esszimmer. Mürrisch blickte sie nach draußen. „Wo bleiben Sie denn, Minnie?“, rief die Hundezüchterin in den Gang hinein. „Ich habe genau gesehen, dass der Krankenwagen Sie längst ausgespuckt hat. Und der Lift ist auch nicht nach oben gefahren!“
    Daraufhin rollte Minnie ihren Rollator in Richtung Esszimmer, begleitet vom Mops und vom Mädchen.
    Sie sah die Hundezüchterin und erschrak. Zwar hatte Marisabel in der letzten Woche erfolgreich ihren Stammplatz verteidigt, doch Frau Prinz schien viel dünner geworden zu sein. Sie stocherte im Essen herum.
    Außer Montrésor, der am anderen Ende des Tisches saß und durch sein Uhrglas das Fenster fixierte, war kein anderer Gast anwesend.
    „Ganz schön still hier, was?“, fragte die Hundezüchterin. „In der letzten Woche ist so viel passiert! Im Haus geht irgendein Infekt um. Zuerst hat es Annette erwischt. Sie liegt im Bett und übergibt sich ständig. Auch Mutter Merkel ist ständig oben. Mit Sonja geht es zu Ende. Omi hat gestern ihre palliative Sedierung, wie es so schön heißt, bekommen. Sie liegt in einem flachen Schlaf, bei dem das Bewusstsein erhalten bleibt und aus dem sie, so heißt es, in den ewigen rüber rutschen kann, ohne zu merken, dass sie bricht oder röchelt. Wobei, das habe ich gelesen, billigend in Kauf genommen wird, dass der Tod früher eintritt. Nadine schläft, Herbert Powelz schläft, Bella schläft, Omi schläft, Jesse schläft – alle schlafen den ganzen Tag. Nur einer ist außer mir und Adolf wach – unser neuer Mitbewohner. Er heißt Dr. Z. und kommt aus der Batschka! Gott weiß, wofür das nun wieder steht. Jedenfalls ist er ein Geistlicher mit einem Glioblastom. Das ist ein schlimmer Hirntumor. Dr. Z. liegt im alten Klatsch-Zimmer und macht einen sehr verwirrten Eindruck.“
    In diesem Moment hallte ein leiser Ruf durch die leeren Gänge. „Hallo?“, rief eine Männerstimme.
    „Manchmal hört man ihn leise rufen“, seufzte Marisabel. „Seine Tür muss immer geöffnet bleiben, weil sich seine Lage ständig ändern kann. Wenn man direkt an seinem Zimmer vorbeigeht, hört man ihn beten. Das klingt so schön! Aber er ist immer allein. Er tut mir so leid!“
    „Schläft er auch mal?“, fragte Minnie.
    „Kaum“, antwortete Marisabel nüchtern. „Außerdem verweigert er jede Art von Medizin.“ Die Hundezüchterin musterte ihre Fingernägel, von denen der Lack längst abgeblättert war. „Aber Sie, Sie sehen gut aus, Minnie!“
    „Danke“, antwortete die alte Dame. „Ich habe mich mit allem arrangiert. Aber sagen Sie, wie verlief Annettes Familienfeier?“
    „Fand statt“, sagte die Hundezüchterin triumphierend. „Der ganze Grüne Saal war voll. In der Mitte stand Annettes Bett.“
    „Annettes Bett? Sie hat die Feier liegend erlebt?“
    „Ja“, sagte Marisabel. „Daran war der Infekt schuld, der im Haus umgeht und Bella ebenfalls voll erwischt hat. Passen Sie bloß auf sich auf! Trotzdem hat Annette die Party total genossen. Sie war der strahlende Mittelpunkt. Außerdem scheint sich Angie mit ihrem Schwiegervater ausgesprochen zu haben. Seit dem Fest duldet sie, dass er öfter hier ist. Annette selbst sieht man leider nur noch selten. Sie kommt nie mehr ins Esszimmer. Mir fehlt der Mumm, an die Tür zu klopfen, weil ich nicht weiß, ob ich die Familienintimität störe.“
    „Welchen Infekt hat sich Bella zugezogen?“
    „Keine Ahnung, aber es muss derselbe sein, der Annette erwischt hat. Beide wurden am gleichen Tag krank. Ich weiß nur, dass Bella viel Besuch bekommt. Freundinnen von früher geben sich die Klinke genau so oft in die Hand wie ihre Familie. Aber als jemand, der sie schließlich auch kennen- und schätzen gelernt hat, bleibt man plötzlich außen vor. Man fühlt sich so einsam! Als ob alle gingen… Gut, dass Sie wenigstens zurück sind. Nein, Bella habe ich das letzte Mal gesehen, als die Friseurin ins Haus kam und sich Bella eine komplizierte Hochsteckfrisur machen ließ – von einer reizenden Dame namens Monika, die einen Salon um die Ecke betreibt. Sie kommt ab jetzt einmal im Monat und verpasst allen, die noch Haare haben und es möchten, gratis einen neuen

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