Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
mich eben verhört. Sie haben doch selbst belauscht, was die Pfleger und Ärzte damals im Grünen Saal gesagt haben. Genau wie das Gespräch der alten Knopinskis. Kommen Sie mir nicht so pseudomoralisch.“
Minnies Kopf sank in ihre Hände. „Es tut mir leid“, entgegnete die alte Dame. „Sie haben einen wunden Punkt getroffen. Ich sehe den schaurigen Kindgreis immer öfter. Ich fürchte mich so. Anscheinend kann ihn niemand sehen außer mir. Nur Marisabel…“
Der Journalist nickte. „Ich verstehe, dass Sie sich in die Hosen machen. Vor allem in Ihrer Situation.“
„Die ist auch alles andere als leicht“, gestand Minnie kläglich. „Ich will Ihnen mal etwas beichten. Als ich nach Haus Holle kam, hatte ich eine Scheißangst – so würde es Nadine Nisse ausdrücken. Dann jedoch ließen mich unsere Mission und Marius den Tod vergessen. Die schrecklichen Visionen vom Kindgreis erinnern mich immer wieder an ihn. Was, wenn er der Mörder ist, den Knopinski gemeint hat? Vielleicht trägt einer der Gäste eine Maske! Ich möchte nicht sterben! Ich kann dem Tod nicht vertrauen!“
„Fahren Sie fort“, ermunterte Mike die alte Dame.
„Ich habe Dr. Albers Löcher über das Sterben in den Bauch gefragt – und er hat mir alles erklärt. Aber die Angst will einfach nicht verschwinden. Ich habe Todesangst davor, dass das Sterben doch weh tut und ich bis in alle Ewigkeit allein sein werde und für immer in diesem Tot-Zustand sein muss. Mir fehlt die Gewissheit, dass alles gut wird, und mit gut meine ich: nicht allein sein, keine Angst haben müssen, nicht im Dunkeln zu sein für alle Ewigkeit.“
Ihr Zuhörer nickte. „Diese Angst plagt uns alle. Aber viele Menschen glauben auch, dass alles gut wird.“
„Ist das nicht ein Selbstbetrug?“, zweifelte Minnie. „Eine Selbsttäuschung, mit deren Hilfe wir die Wahrheit verdrängen, dass wir sterben müssen und unsere Leichen wie Kokons zu einem Erdloch getragen werden?“
„Fürchten Sie sich vor der Verwesung?“
„Nein! Ich fürchte mich vor dem Gedanken, dass ich nach dem Tod noch denken kann, aber zu keiner Handlung fähig bin. Wie ein Wachkoma-Patient! Für immer und ewig!“
„So, als hätten Sie sich Ihr ganzes Leben nur ausgedacht?“, fragte der Journalist ungläubig. „Als ob alles, was wir im Leben sehen, eine Vision wäre – oder ein Film, den wir nicht stoppen können und in dem wir mittendrin stecken?“
„Keine Ahnung“, antwortete Minnie. „ Anscheinend muss ich anerkennen, dass der Tod größer ist als mein Verstand. Ich weiß nicht, ob alles gut endet.“
Der Journalist hob die Hand. „Ich habe ein Gegenargument! Wenn Sie ganz tief in sich hinein horchen und sich dann die Frage stellen, ob Sie leben möchten – was würden Sie antworten?“
„Ja“, sagte Minnie.
„So geht es allen Menschen“, meinte Mike. „Aber wir wissen auch, dass unsere Geburt und das Sterben untrennbar zu diesem Leben gehören. Ich möchte Ihnen eine weitere Frage stellen: Haben Sie eine negative Erinnerung an Ihre Geburt?“
„Nein!“
„Genauso wird es sich mit dem Tod verhalten. Er ist nicht schlecht, weil Sie sich im Zustand des Todes nicht an das Sterben werden erinnern können. Das Totsein ist mindestens neutral. Wenn Sie dann noch berücksichtigen, dass die Natur kein Lebewesen aus Spaß quält, schlägt die Gut-Kurve weiter nach oben aus. Warum sollten Sie sich also fürchten?“
Minnie schüttelte die weißen Locken. „Weg mit den negativen Gedanken“, sagte sie laut. „Jetzt will ich alles über Ihre Recherchen wissen. Welchen Beruf hatte Knut Knopinski? Wissen Sie das inzwischen?“
Der Reporter nickte.
Er grinste wie ein Breitmaulfrosch.
„Knopinskis Beruf wird Sie sehr überraschen!“
Reue
Drei Tage später konnte Minnie immer noch nicht fassen, welchen Beruf der alte Mann ausgeübt hatte.
„Ein hochrangiger Gefängniswärter im Staatsdienst … Das hätte ich nie gedacht“, flüsterte die alte Dame ihrem Spiegelbild zu.
Mikes Enthüllung warf ein völlig neues Licht auf ihre Beobachtungen. Plötzlich verstand sie, warum der düstere Mann seine Ehefrau jahrelang zuhause eingesperrt und in Haus Holle durch die Schlüssellöcher spioniert hatte. Auch seine Drohungen passten zu seinem Beruf: Knopinski war ein Sadist gewesen, der andere kontrollierte, demütigte und bestrafte – ein schrecklicher Sadist, der in Haus Holle einen Mörder wieder erkannt hatte.
Aber die neue Erkenntnis bestätigte noch etwas
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