Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
wohl. Am Anfang konnte ich mir das selbst nicht eingestehen. Aber als die Schmerzen weg waren, begann das normale Leben wieder.“
„Wer weiß schon, was morgen ist?“, ergänzte Annette. „Auch ich lebe von Tag zu Tag – ohne an das Gestern oder das Morgen zu denken. Damit geht es mir verdammt gut.“
„Das ist eine Sache unter uns“, rief Jeremy und funkelte Annette an. „Joanna war immer neidisch, dass sie außen vor war. Sie war Papas Liebling. Mutter bevorzugte Jesse und mich. Als Mutter starb, wurden wir noch enger aneinander geschweißt. Doch seit meine Schwester meinen Vater begraben musste, fühlt sie sich isoliert – und ist völlig vereinsamt. Deshalb funkt sie Jesse und mir dazwischen, wo sie nur kann.“ Seine Hand schlug so kraftvoll auf die Oberfläche des Esszimmertisches, dass Marisabels Porzellantasse umfiel und zerbrach. Das ließ die Hundezüchterin nicht auf sich sitzen. Zornig riss sie ihren Mund auf und begann vor Wut zu keifen.
Kostja hörte den Lärm im Esszimmer. Ein Blick auf die erregte Runde genügte, um ihm zu zeigen, dass die Situation eskalierte. Der Koch eilte in die Küche zurück und drückte den Alarmknopf, der Dr. Albers auf den Plan rief. Zwei Minuten später erreichte der Psychologe das Esszimmer.
Trotz der angespannten Situation – Marisabel Prinz und Jeremy Zimmermann standen sich wutentbrannt gegenüber und gingen sich fast an die Kehle, während Adolf Montrésor die Gelegenheit ausnutzte, um sich eine frühmorgendliche Bierdose zu öffnen und Bella Schiffer verlegen ihre Fingernägel polierte – begrüßte er die Gäste mit einem freundlichen Guten Morgen .
„Gut ist hier nichts“, entgegnete Joanna Zimmermann. „Mein Bruder Jeremy ist nicht damit einverstanden, dass Jesse in Haus Holle bleibt. Er will ihn mit Gewalt rausholen.“
„Und was wollen Sie?“ Der Psychologe fixierte den jungen Förster. „Nur Frieden“, antwortete Jesse. „Und dass sich die anderen vertragen.“
„Dann liegt es nun an Ihnen, Ihrem Bruder zu geben, wonach er verlangt!“ Andreas spielte den Ball zurück zu Joanna und Jeremy. Die Streithähne standen sich unversöhnlich gegenüber.
„Zu allem Überfluss“, rief Marisabel, „hat er meine Tasse zerbrochen.“ Sie deutete auf Jeremy.
„Sie befinden sich alle in einer psychischen Ausnahmesituation, mit der die meisten keine Erfahrung haben“, sagte Dr. Albers. „Deshalb kann ich Sie alle verstehen. Sie glauben gar nicht, wie oft es Ärger gibt in Haus Holle.“
„Sie meinen am Sterbebett“, sagte Jeremy sarkastisch.
„Selbst da“, pflichtete Dr. Albers ihm bei. „Aber am Sterbebett können jene Knoten, die für jahrelange Familienkonflikte verantwortlich sind, oftmals nicht mehr entknotet werden. Bei Jesses momentanem Gesundheitszustand ist es aber noch möglich, sie zu lösen. Ich empfehle Ihnen dringend, dass Sie sich aussprechen, und biete mich Ihnen als ein gerechter Mediator an.“
„Aber wenn die Aussprache nicht gelingen wird?“ Jesse blieb skeptisch.
„Nicht immer wird ein Konflikt gelöst. Und nicht immer sterben unsere Gäste am Ende geläutert. Auch das ist das Leben“, sagte Dr. Albers.
Er nahm Jeremy ins Visier. „Warum sind Sie so zornig?“
„Weil ich glaube, dass noch Hoffnung für Jesse besteht“, antwortete Jeremy. „Außerdem könnten wir noch die besten Ärzte der Welt konsultieren.“
Der Psychologe nickte verständnisvoll. „Glauben Sie, dass Geld die größten Herrscher der Welt davor bewahrt hat, zu sterben?“
„Nein! Aber Jesse hat noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft!“
„Ihr Bruder hat alle Therapiemöglichkeiten genutzt. Die Aussicht auf Heilung gehört seiner Vergangenheit an. Sie müssen nun gemeinsam lernen, in der Gegenwart zu leben.“
Jeremys erschöpfter Blick verriet dem Psychologen, dass er die richtigen Worte gefunden hatte. „Sie können das gemeinsam lernen. Wissen Sie, wo die zufriedensten Menschen leben? Nicht in Saudi-Arabien, wo sie am reichsten sind. Auch nicht in Japan, wo sie am ältesten werden. Es sind nicht die Kanadier, obwohl sie den höchsten Bildungsgrad haben. Nein! Am zufr iedensten sind die vermeintlich armen Südamerikaner, die im Hier und Heute leben. Das dürfen Sie mir ruhig glauben. Es sind die neuesten Erkenntnisse aus weltweiten Bevölkerungsumfragen.“
„Das macht es uns auch nicht leichter. Es ist so schwer, mit ansehen zu müssen, wie Jesse auf das Ende zusteuert!“ Es war Joanna, die diese Wahrheit
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