Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
aussprach. Dann fuhr sie fort. „Ich kann Jeremy gut verstehen – und ja, es stimmt, dass ich mich isoliert fühle. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich meine Brüder spalten möchte. Ich folge meinem Gewissen, weil ich spüre, dass es für uns alle das Beste ist, wenn Jesses medizinische Pflege in Ihre Hände gelegt wird, Dr. Albers. Solange Jesse schmerzfrei ist, haben wir die Möglichkeit, die Zeit mit ihm zu genießen.“
Weinend ergriff sie die Hand ihres Bruders.
Eine Viertelstunde später war Minnie reisefertig. Bevor der Krankenwagen kam, um sie abzuholen, klopfte die alte Dame noch an die Tür von Zimmer 12, um sich von Mike zu verabschieden.
Der Journalist sah müde aus.
Minnie berichtete ihrem Freund, was sich in Haus Holle ereignet hatte. Mike staunte über das plötzliche Ableben von Otto G. Klatsch und berichtete ebenfalls von seinen Erlebnissen.
„Ich war gestern noch bei Omi“, flüsterte er, um seine Eltern nicht aufzuwecken. „Klärchen Krause geht es gar nicht gut. Noch immer sind zahlreiche Speisen in ihrem Zimmer verteilt, und noch immer muss der Koch Überstunden für sie machen. Dabei kann sie kaum noch essen. Sie pickt bloß in den Speisen herum, und ist schrecklich mies gelaunt. Ich hatte das Gefühl, dass sie im Fünf-Minuten-Takt auf die Waage geht. Ihre einzigen Sätze lauten: Ich muss mich aufpäppeln, ich muss doch zunehmen . Omi steht dem Tod völlig unversöhnlich gegenüber, und sie trägt nur noch ihre schwarze Perücke. Omaira .“
„Haben Sie herausgefunden, worunter sie leidet?“, fragte Minnie.
„Irgendwas mit dem Magen“, antwortete der Journalist. „Anscheinend gibt es dort einen Tumor, der schon aufgebrochen ist, und sie Blut husten lässt. Außerdem droht ihr ein Darmverschluss. Eigentlich soll sie gar nichts mehr essen, denn sie wird die Speisen bald nicht mehr durch den Darm ausscheiden. Bruno hat Omi davor gewarnt, dass sie das Verdaute erbrechen könnte. Er sorgt sich sehr um unsere dünne Dame. Sie jedoch will sich keine Spritze geben lassen, durch die sie sediert wird. Dabei würde sie dann nichts mehr merken, und erst recht nicht qualvoll sterben. Aber wie gesagt – sie redet nur übers aufpäppeln.“
„Macht sie noch anzügliche Witze?“
„Keinen einzigen.“
„Konnten Sie etwas über Knopinskis Beruf herausfinden?“
„Am kommenden Montag bekomme ich die Information“, sagte Mike. „Aber es könnte sein, dass sich die Lage meines Vaters bis dahin noch weiter verschlechtert hat.“
Vorsichtig deutete der Journalist auf das Bett hinter sich. „Was machen wir, wenn Sie zurückkommen – und ich nicht mehr hier sein sollte? Soll ich Sie dann anrufen?“
„Ich bin mir sicher, dass ich rasch wieder hier sein werde“, antwortete Minnie.
„Was ist mit dem unbekannten Mann, den Sie manchmal sehen?“ Mike wollte einen Scherz machen. Leider jedoch traf seine Frage ins Schwarze, und ließ Minnie frösteln. Tatsächlich hatte die alte Dame den Unbekannten mit dem kindlichen Körper und dem Greisenkopf seit dem Vorfall während der Monopoly -Partie schon wieder im Haus herumgeistern sehen – und das gleich dreimal.
Die Abstände wurden immer kürzer. Beim ersten Mal meinte sie, den gruseligen Schleicher in einer TV-Werbung gesehen zu haben – mitten in einem Reklame-Spot. Das zweite Mal hatte sie von ihm geträumt. Im Halbschlaf stellte er sich als Hans vor. Die Begegnung war nicht schrecklich, aber Minnie fand es seltsam, dass er einen mit Karos bedruckten Kittel trug. Auch das dritte Wiedersehen fand im Traum statt. Hans und sie waren auf einem Tanzball – gemeinsam mit Marisabel und einem Engel. Während des Tanzes hatte es sogar einen Partnerwechsel gegeben. Als Minnie in den Armen des Engels lag, erkannte sie, dass sie Hans besser führte, weil sie sich bei ihm sicherer fühlte.
Jetzt jedoch, kurz vor ihrer Abreise, war nicht der richtige Zeitpunkt, um Mike von ihren Visionen zu erzählen. Deshalb lächelte die alte Dame und nutzte die Tatsache aus, dass man bereits nach ihr rief.
Minnie drückte die Hand des Reporters. „Hier im Haus ist es wahnsinnig schwer, zwischen natürlichen und unnatürlichen Todesfällen zu unterscheiden – weil hier ständig gestorben wird und weil niemand obduziert wird. Wenn es das perfekte Verbrechen gibt, dann kann es nur hier stattfinden. Ich glaube nach wie vor, dass es zwischen dem Tod der Knopinskis und dem Tod von Professor Pellenhorn eine Verbindung gibt – und dass die drei mit
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