Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
das gewesen sein musste.
Adolf Montrésor und Rudi Weiß standen wie Zwillinge im Zimmer. Zwar hatte der alte Vagabund Annette nie zu Lebzeiten kennengelernt, doch er folgte seinem neuen Freund Montrésor auf Schritt und Tritt. Während der alte Vagabund betrübt dreinblickte, und seine Augen immer wieder abwartend zu Adolf wanderten, um dessen Gesten zu imitieren, schüttelte er trübselig den Kopf.
Marisabel Prinz indes war nicht wieder zu erkennen. Sie hatte sich aus ihrem Bett geschleppt, einen Kimono übergeworfen und ihre roten Locken vergessen. Die Hundezüchterin drückte sich ein feines Damentaschentuch unter die Nase und schniefte pausenlos.
Lediglich ein einziger Gast schien zu fehlen. Minnie suchte vergeblich nach Nepomuk.
„Wie konnte das so plötzlich passieren?“, fragte Marisabel mit gebrochener Stimme. „Ich meine, hat es sich angebahnt?“ Verzweifelt suchte ihr Blick Angies Augen.
Die junge Witwe stand auf und ging um das Bett herum. Sie setzte sich neben ihre tote Frau.
„Es war wunderschön“, sagte Angie mit klarer Stimme. „Annette und ich lagen nebeneinander, als die Wintersonne unterging. In diesem Moment hob Annette den Kopf und blickte ihr nach. Ich weiß, es klingt kitschig, aber mit einem Mal lächelte sie und ist ganz sanft eingeschlafen.“
Tatsächlich spiegelte sich Freude auf dem Gesicht der Toten.
Angie streichelte Marisabels Arm. „Wir müssen nicht traurig sein“, erklärte sie der Hundezüchterin. „Annette wollte in meinen Armen sterben – und genau so ist es geschehen. Ich bin sehr dankbar für dieses Geschenk.“
Als Marisabel dennoch weiter schluchzte, und ihr Weinen schließlich in ein atemloses Hyperventilieren überging, nahm Dr. Albers die Hundezüchterin fest in die Arme. „Frau Prinz, Annette ist noch hier. Sie ist mitten unter uns. Spüren Sie das nicht?“
„Aber ich habe Angst, dass es bei mir anders verläuft“, antwortete Marisabel schniefend. „Ich möchte so gern wissen, wie das Ende bei mir sein wird. Dann wäre ich viel beruhigter.“
„Diese Furcht wird Ihnen niemand nehmen können“, antwortete Andreas Albers. „Aber, wie schon mehrfach gesagt, ein schwerer Todeskampf ist die Ausnahme.“
„Für mich ist es unerträglich, dass das ganze Haus noch vor ein paar Wochen voller Leben war“, schluchzte Marisabel, „und dass die Stimmung jetzt so gekippt ist. Plötzlich ist es so schrecklich ruhig. Außerdem mag ich gar nicht mehr ins Esszimmer kommen. Dort sitzen fast immer“ – sie nickte verächtlich zu Adolf und Rudi, „diese zwei Herren. Dabei steht Weihnachten vor der Tür!“
Verständnisvoll nickte Andreas. „Oder ist es vielleicht so, dass es Ihnen selbst schlechter geht?“
Die Hundezüchterin heulte laut auf. „Dieser Infekt, den Annette hatte und unter dem ich jetzt auch leide – vielleicht ist das gar keine Grippe! Vielleicht ist das ja der Beginn des Sterbens!“
In diesem Moment klopfte es an die Tür.
Andreas öffnete umgehend.
Sein Blick wanderte hinab zu einem Mädchen, das einen Mops im Arm hielt.
Der Psychologe ging sanft in die Hocke.
„Hallo Fee“, sagte er leise, „hast Du Hunger? Es gibt gleich Essen!“
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. Es blickte zögernd auf ihren Hund.
„Luna verträgt sich nicht mit dem Kater, der sich vorhin zu Mama ins Bett gelegt hat. Und Mama redet gar nicht mehr mit mir. Können Sie mal ins Nebenzimmer kommen?“
Marisabel schrie entsetzt auf. „Ist Nadine etwa tot? Das ist zu viel für meine Nerven! Wird hier sogar in der Vorweihnachtszeit gestorben? Wie können wir das Fest überhaupt noch planen – und feiern? Ich werde umgehend ins Bett gehen… Ich weiß jetzt, dass ich keinen Infekt habe… Erst Annette… und dann Nadine… am gleichen Tag… Ich bin bereit… Ich bin fertig zum Sterben. Ich werde nicht mehr aufstehen.“
Die Hundezüchterin stakste zur Tür.
Andreas begleitete sie.
„Unser Haus“, erklärte der Psychologe Marisabel, „ist keine heilige Stätte. Wir sind ein Teil des Lebens. Nicht alles verläuft friedvoll und planbar. Aber wir sind an Ihrer Seite!“
Im Hospiz breitete sich eine Geschäftigkeit aus, die einen unvoreingenommenen Beobachter an eine professionelle Unruhe hätte erinnern können.
Während Dr. Coppelius und Dr. Aracelis zu Zimmer 11 eilten, wo Nadine tatsächlich tot im Bett lag – die Kranke war sanft und plötzlich verschieden, während ihre Tochter mit Dominosteinen und ihrem Mops gespielt hatte
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