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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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die Oberfläche der Spiegel zu blicken. Dann werde ich endlich loslassen können…“

Abschiede
     
     
    Als Minnie aus dem Grünen Saal trat, brannte die Kerze.
    Erschrocken riss die alte Dame ihre Augen auf. Sie war doch nur vier Stunden abwesend gewesen! Was um Himmels willen war in der Zwischenzeit passiert?
    Sie schob ihren Rollator zum aufgeschlagenen Kondolenzbuch und las die Antwort – mit Liebe gemalte Buchstaben, die sich sofort in ihr Gehirn brannten und ihre Wirklichkeit für immer veränderten. Sie war zurück in der Realität.
    Annette . Es kommt nicht darauf an, wie lange man lebt, sondern wie man lebt. Deine Angie.
    Minnies Finger zitterten. Fast wäre die alte Dame umgeknickt, so wacklig waren ihre Knie plötzlich.
    Die junge Optimistin war tot. Ihre fröhliche Annette, die ihr so sehr ans Herz gewachsen war. Annette war für immer verstummt.
    Minnie griff zum Füller. Einen Moment lang wusste sie nicht, wie sie die Flut der Gefühle, die sie überwältigte, in Worte fassen sollte. Dann ließ sie ihr Herz sprechen. Annette! Dein Liebreiz hat mir sehr geholfen. Dein Lachen werde ich niemals vergessen. Wir werden uns bald wiedersehen… Deine Minnie .
    Ohne dass sie es kontrollieren konnte, schossen Tränen in Minnies Augen. Plötzlich erinnerte sie sich, was Annette vor kurzem, als sie noch alle zusammen gewesen waren – und sich von Professor Pellenhorn verabschiedet hatten – zu den anderen Gästen gesagt hatte: Hiermit lade ich Euch alle ein, mich an meinem Totenbett zu besuchen, wenn es einmal so weit ist .
    Ursula Demarmels war Minnie gefolgt. Sie spürte die tiefe Traurigkeit der alten Dame, nahm Minnie in die Arme und strich über ihre weißen Locken. „Das war zu viel für einen Tag“, sagte Frau Demarmels. „War Annette eine Freundin von Ihnen?“
    „Eine der besten“, antwortete Minnie. „Sie war mir so an Herz gewachsen.“
    Frau Demarmels ließ die alte Dame los, hielt sie jedoch an den Armen fest, und sah ihr direkt in die Augen. „Ich muss mich jetzt verabschieden, Minnie. Aber ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Sie sind mir ans Herz gewachsen, obwohl wir uns erst seit heute kennen. Ich werde Sie nie vergessen. Meine besten Wünsche werden Sie begleiten.“
    Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Katze Lilith, die lautlos auf Ursulas Arm gesprungen war, ging Frau Demarmels langsam zum Ausgang.
    Sie hatte die Tür bereits geöffnet, als sie sich noch einmal umdrehte. „Seit heute wissen Sie ja, dass wir uns immer wiedersehen. Ich freue mich auf das nächste Treffen – wo auch immer es stattfinden wird.“
    Die Haustür schloss sich, und Dr. Albers kam auf die alte Dame zu. Stumm drückte er Minnies Hand.
    „Ich möchte nun nach oben fahren“, sagte Minnie mit zitternder Stimme. „Ich möchte Annette noch einmal sehen.“
    „Dann werde ich Dich begleiten.“ Der Psychologe lächelte. Während sie gemeinsam auf den Lift zugingen – ganz langsam, weil Minnies Beine plötzlich schlapp machten – erzählte Andreas der alten Dame, was passiert war.
    „Annette hat uns ganz plötzlich verlassen. Angie und sie lagen gemeinsam im Bett. Plötzlich hob Annette ihren Kopf und blickte zum Fenster. Dann sank sie zurück auf das Kopfkissen. Sie schlief sanft ein. Alles ging sehr schnell.“
    Minnie schluchzte. „Und Angie? Wie geht es der Armen?“
    „Sie hat Annette persönlich umgezogen. Auf diesem Liebesdienst bestand Angie. Unsere Mitarbeiter haben Annette nur kurz untersucht, und sind dann hinaus gegangen. Die Stimmung in Zimmer 10 ist schön, und sehr friedlich. Angie möchte Dich gern sehen.“
    Gemeinsam verließen sie den Aufzug.
    Vor Annettes Raum brannten zwei Teelichter und eine große Kerze. Sie warf ein flackerndes Licht in den Flur, das Schatten an die Wände malte.
    Annettes Zimmertür war nur angelehnt und die alte Dame hörte Robbie Williams Lied Angels .
    Minnie hielt einen Moment lang inne, bevor sie eintrat.
    Als erstes stach ihr Angie ins Auge.
    Die junge Witwe hielt ihre tote Frau in den Armen. Angie lag barfuß neben Annette im Bett, und streichelte abwechselnd die schwarzen Locken und die Stirn der Toten. Annette trug ein Blumenkleid.
    Mutter Merkel saß vor dem Fenster. Die drollige Dame war kein bisschen quirlig. Fasziniert verfolgte sie die Szene, die sich ihr bot, denn was Angie gerade erlebte, hatte ihr das Schicksal vier Mal verwehrt. Keinen meiner Lieben durfte ich sehen, als er gestorben war , hatte sie einmal gesagt. Nun verstand Minnie, wie schwer

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