Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
– zündete die Hauswirtschafterin eine zweite Kerze an. Irgendjemand hatte Nadines Name auf die Tafel geschrieben. Er fiel ein bisschen kleiner aus, weil niemand mit zwei Todesfällen am gleichen Tag gerechnet hatte. Andreas schrieb Nadines Namen ins Buch, Mike verfasste einen Abschiedsgruß und der dünne Dietmar kleidete die Tote um.
„Ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“, sagte der Priester, als Minnie an seiner Tür vorbei ging.
Die alte Dame lächelte. Alles war gut.
„Wir sollten etwas essen“, schlug Adolf vor. „Es ist doch längst 18.30 Uhr!“
Rudi bot Minnie seinen Arm an. Beschützt von den beiden älteren Herren schob die alte Dame ihren Rollator zum Aufzug.
In diesem Moment erschien Bella Schiffer auf der Bildfläche. Die ehemalige Schönheitskönigin sah völlig verwirrt aus. Zwar war ihr Haar akkurat hochgesteckt, doch ihr Blick wirkte leer und verwirrt.
„Wo bin ich und was mache ich hier?“, rief sie und steuerte schwankend auf die Treppe zu. Sie drohte zu stürzen. Erst im letzten Moment fand ihre zitternde Hand das schmiedeeiserne Geländer und hielt sich klammernd daran fest.
Unter ihr bildete sich eine Pfütze.
Bella Schiffers Sterben hatte begonnen. Die Schönheit hatte sich eingenässt.
Am Abend des 14. Dezember griff Minnie zum Telefonhörer.
Sie wählte eine Nummer in Frankreich, und anschließend eine in England.
„Hier ist Mutter“, sagte sie zweimal, und telefonierte stundenlang mit ihren Töchtern.
Um 2 Uhr packten Clara und Ute ihre Koffer.
Zu diesem Zeitpunkt schlief die alte Dame bereits tief und fest.
Bereit ist nicht fertig
Marisabel Prinz klingelte pausenlos nach den Pflegern. Ihre Finger, deren Nägel sie längst nicht mehr polierte, schliff und lackierte, drückten im Zehn-Minuten-Takt auf den Alarmknopf.
Sobald die Pfleger Zimmer 9 betraten, blickte Marisabel sie unschuldig an. „Ich habe nicht nach Ihnen gerufen“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Ich habe wirklich nicht nach Ihnen gerufen.“
Seitdem sich die Hundezüchterin am Vortag ins Bett gelegt und beschlossen hatte, künftig nicht mehr aufzustehen, wirkte sie wie verwandelt. „Mir doch egal, was aus meinen Immobilien wird“, sagte sie mürrisch. „Ich bin bereit, ich bin fertig zum Sterben.“ Innerhalb weniger Stunden war ihre Zuversicht spurlos verschwunden, und jede Lebenslust in Frust umgeschlagen.
Doch um 15 Uhr am nächsten Tag hatte sie der Tod immer noch nicht geholt. Deshalb klingelte sie um 16 Uhr nach dem dicken Dietmar. „Ich warte auf den Tod“, sagte sie erzürnt. „Seit einem halben Tag und einer Nacht bin ich nun schon bereit. Doch er kommt nicht! Was soll ich bloß tun?“
„Herr Dr. Albers ist gerade außer Haus“, sagte der beleibte Pfleger. „Ich kann ihn nachher zu Ihnen schicken.“
„Pah!“, sagte die Hundezüchterin. „Den Psychologen will ich nicht sehen. Ich will sterben. Warum klappt das nicht? So viele Wochen habe ich gekämpft. Alle anderen sind gestorben. Nun bin ich auch endlich bereit. Verstehen Sie? Ich habe akzeptiert, dass ich sterben werde. Ich will Weihnachten gar nicht mehr erleben. Ich will endlich sanft und friedlich einschlafen. Ich bin jetzt endlich mit allem im Reinen. Warum dauert es so lange, bis ich auch abgeholt werde?“
In diesem Moment klopfte Mike an die Tür. Der Reporter hatte gehört, dass Marisabel mit Gott und der Welt und ihrem Leben haderte.
Er steckte den Kopf in ihr Zimmer.
„Endlich ein Mensch!“, rief die Hundezüchterin. „Kommen Sie sofort hinein. Haben Sie schon gehört, dass ich bereit bin? Ich bin endlich fertig zum Sterben.“
Mit einem Seufzer ging Dietmar hinaus, und Mike zog sich einen Stuhl an Marisabels Bett.
„Ja, man erzählt es sich unten“, verriet er Frau Prinz. „Aber wie geht es Ihnen wirklich?“
„Mein Bauch ist schrecklich aufgebläht“, sagte die Hundezüchterin. Sie zog die Bettdecke nach oben. In diesem Moment sah der Journalist, dass die feine Dame die Wahrheit sprach. Hätte Marisabel erzählt, dass sie im fünften Monat schwanger sei, hätte es ihr jeder geglaubt.
Die Hundezüchterin presste ihre ungeschminkten Lippen aufeinander, bis sie nur noch einen schmalen Strich bildeten. „Ich blähe so schrecklich“, sagte sie leidvoll. „Es tut mir leid, aber ich muss ein paar Gase ablasen. Ich hoffe, es wird nicht zu laut…“
Sie schloss die Augen und lies ihre Winde unhörbar fahren.
„Das war ja so leise“, staunte die feine Dame. „Ich hätte
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