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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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neuen Gäste dachten schon, dass Sie ein Mythos sind, weil sie die Dame aus Zimmer 6 noch nie gesehen haben. Möchten Sie an meiner Seite sitzen?“
    Minnie war zu keiner Erwiderung fähig. Statt der grauen Igelfrisur trug Ruth plötzlich blonde Korkenzieherlocken, einen imposanten Hut mit einer großen Feder und schillernde Ohrringe. Selbst ihr Damenbart war verschwunden. Ruth schob Minnies Rollstuhl zum Tisch, während ihre Töchter mit dem Psychologen sprachen und ihre kranke Mutter besorgt musterten. Minnie ignorierte das. Heute sollte sich niemand um sie sorgen. Sie wandte sich Ruth zu und sah die Zwei-Meter-Dame fragend an.
    „Jetzt schulde ich Ihnen wohl eine Erklärung…“, meinte die große Frau. „Mein richtiger Name ist Olimpia und ich bin transsexuell. Vielleicht kennen Sie Olimpias Nightclub ? Nein? Egal! Den habe ich jahrelang geführt. Viele meiner alten Freunde sind in Haus Holle gestorben. Ich saß nächtelang an ihren Betten – und habe jeden von ihnen begleitet. Doch nun“, sie schlug die Wimpern nieder, „hat mich der Krebs selbst am Wickel. Ich nehme ihn mit Demut an – und werde nicht gegen ihn kämpfen. Den Tod möchte ich angstfrei begrüßen.“
    „Sie sind ein Mann?“, fragte Minnie verblüfft. 
    „Ich war ein Mann“, korrigierte Olimpia, „aber ich habe mich nie so gefühlt. Als Kind hieß ich Martin. Schon damals habe ich mir lieber die Fingernägel lackiert und mich zu Karneval als Schmetterling verkleidet, statt mit Autos zu spielen oder mich in einen Faschingscowboy zu verwandeln.“
    „Heißt das, Sie haben sich von einem Mann in eine richtige Frau um operieren lassen? Raus mit der Sprache! Sie sind nun eine Dame – oder nicht?“
    „Nur gefühlsmäßig“, gestand Olimpia. „Ich bin keine Bio-Frau , sondern eine Trans-Frau . Obwohl mir die Brüste fehlen und ich einen Penis habe, fühle ich wie eine Frau. Als ich jung war, gab es für Transsexuelle noch keine gegengeschlechtlichen Operationen, und auch keine Pubertätsblocker. Diese Medikamente verhindern, dass man einen Stimmbruch und einen Adamsapfel bekommt. Weil ich sie nicht bekam, wurde ich nach und nach zu einem Mann – aber nur äußerlich. Die heutige Trans-Generation hat es viel leichter. Sie fängt schon in jungen Jahren mit einer Therapie an, die Frauen in Männer verwandelt oder umgekehrt.“
    „Dann sind Sie also schwul – so wie Annette? Ach… der sind Sie ja nie begegnet. Heißt das, Sie sind homosexuell?“
    „Ja und Nein. Meine Geschlechtsidentitätsstörung – so nennen das die Mediziner – hat nichts mit meiner sexuellen Orientierung zu tun. Deshalb antworte ich allen, die mich danach fragen, dass ich transident bin, weil es ja um eine Frage der Identität geht. Aber Sie haben den Nagel trotzdem auf den Punkt getroffen. Ich kam als Junge auf die Welt, fühlte mich aber wie ein Mädchen. Mit acht Jahren verliebte ich mich in einen Schulkameraden. In diesem Moment merkte ich, dass ich im falschen Körper steckte. Am besten kann man das Ganze so zusammenfassen: Ich habe mich in Männer verguckt, hatte aber nie das Gefühl, schwul zu sein.“
    „Warum nennen Sie sich Ruth?“
    „So heiße ich, wenn ich zu kraftlos bin, um mich als Frau schön zu machen und meine Östrogene zu schlucken. Der Krebs schwächt mich so, dass ich immer öfter zu Ruth werde. Dabei brauche ich meine Power, um meinen letzten Kampf zu kämpfen.“
    „Aber ich dachte, Sie wollen den Krebs nicht mehr bekämpfen?“
    Olimpia lachte. „Ich fechte einen anderen Kampf aus! Momentan kämpfe ich vor dem Bundessozialgericht gegen meine Krankenkasse. Seit ich weiß, dass ich nicht mehr lange leben werde, will ich unbedingt noch ein Urteil für alle anderen Transsexuellen erstreiten, denen es psychisch so schlecht geht wie mir: Ich will mit einem Grundsatzurteil erreichen, dass alle deutschen Krankenkassen die Kosten für plastische Brustvergrößerungen übernehmen, damit wir Transsexuellen nicht mit Körbchengröße A abgespeist werden, sondern mindestens Körbchengröße B bezahlt bekommen. Das würde unseren psychischen Leidensdruck sehr lindern…“
    „Ist der so groß?“, fragte Minnie.
    Olimpia sah die alte Dame traurig an. „Ja! Sie müssten mal meine Aktenordner sehen! Die enthalten über 150 Seiten Schriftverkehr mit Behörden! All diese Papiere haben sich im letzten Jahr – seit meiner Krebsdiagnose – angesammelt.“
    Prüfend suchte Olimpias Blick nach Verständnis in Minnies Augen. Doch die alte Dame war

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