Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Zeit hinausläuft.“
„Dann erklären Sie mir jetzt alles“, sagte Mike ungeduldig. Allmählich wurde er wütend. „Wir sind doch nicht in einem Roman, in dem am Ende alles auf einen Showdown hinausläuft. Erklären Sie mir verdammt noch mal, was Sie glauben!“
„Keine Angst“, antwortete Minnie. „Ein paar Tage werde ich noch leben. Das wurde mir im Traum versprochen. Ich will das Rätsel komplett lösen. Aber Sie müssen sich wirklich beeilen. Denn unser Mörder ist nicht dumm. Der Tod von Berthold Pellenhorn beweist, dass er sehr geschickt vorgeht, wenn man ihm zu nahe kommt – und wie sehr er auf der Hut ist.“
„Heißt das, Sie sind in Gefahr?“
„Ja“, sagte Minnie. „Wenn der Mörder merkt, dass ich schnüffele, wird er mir nach dem Leben trachten.“
Die alte Dame beugte sich vor, damit s ie noch leiser sprechen konnte. „Meine Perlenkette ist verschwunden“, flüsterte sie, „genau wie der Schmuck von Gertrud Knopinski. Ich weiß genau, wer der Dieb ist. Deshalb habe ich noch eine Bitte. Forschen Sie nach, was aus Cristiano Vernandez geworden ist – Sie wissen schon, das ist der Portugiese, der gelähmt im Bett lag und plötzlich ausgezogen ist.“
Sie reichte Mike einen zweiten Zettel. „Hier habe ich eine Adresse notiert. Sie müssten Cristiano dort finden – aber beeilen Sie sich!“
In diesem Moment waren Schritte zu hören. Dr. Albers erschien unter der Treppe. „Da bist Du ja“, rief der Psychologe. „Wir haben Dich schon überall gesucht, Minnie. Was machst Du denn unter der Treppe? Hier zieht es doch!“
Die alte Dame lächelte.
„Mike wollte mir in Ruhe erzählen, was er in den letzten Tagen erlebt hat. Im Grünen Saal ist es ja so laut…“
Verständnisvoll nickte Dr. Albers und lachte: „Da hast Du Recht – von einer Stillen Nacht kann keine Rede sein.“
Der Psychologe gab Mike die Hand, wünschte ihm ein frohes Weihnachtsfest und verabschiedete sich dann.
„Da haben Sie es“, sagte Minnie leise. „Gott sei Dank war es nur Dr. Albers… Wenn ich eines vermeiden möchte, dann ist es, als schreiende Flocke zu enden wie der arme Berthold Pellenhorn.“
„Als schreiende Flocke?“
Verwirrt blickte Mike Minnie an.
Doch die alte Dame winkte ab. „Das müssen Sie nicht verstehen, Mike. Gehen Sie jetzt bitte zurück, und schicken mir Olimpia – sie sieht aus wie Charleys Tante . Mit der muss ich auch ein paar Takte reden.“
Klick klack, klick klack.
Olimpias High Heels waren unüberhörbar. Minnie wäre es lieber gewesen, wenn sich die große Dame leiser genähert hätte, doch sie konnte es nicht ändern. Außerdem waberte eine dichte Parfümwolke hinter der Trans-Frau her.
„Was machen Sie denn unter der Treppe?“ Olimpia zog die Federboa um ihren Hals. „Hier zieht es ja mächtig – ist Ihnen nicht kalt?“
„Das ist jetzt egal“, sagte Minnie abwehrend. „Ich möchte, dass Sie mich zurückbringen in den Grünen Saal, und dass jeder davon Notiz nimmt. Außerdem habe ich noch eine Bitte.“
Die herausgeputzte Zwei-Meter-Frau spitzte die Ohren.
„Sie sind noch so kraftvoll, Olimpia. Deshalb möchte Sie bitten, in den kommenden Nächten – sofern es Ihnen möglich ist – an meinem Bett zu wachen. Momentan kann ich Ihnen den Grund noch nicht verraten. Aber ich fürchte mich davor, allein zu sein.“
„Und Ihre Töchter?“
„Die sollen tagsüber bei mir sein. Clara morgens, Ute nachmittags – oder umgekehrt. Würden Sie das für mich tun?“
Flehentlich sah die alte Dame Olimpia an.
Kritisch erwiderte die Transfrau ihren Blick. „Sie fürchten sich doch vor dem Sterben, stimmt’s? Nun, dann werde ich natürlich bei Ihnen bleiben.“
Olimpia schob Minnie zurück. Als sie an einer frischen Kerze vorbeikamen, die im Ständer steckte und jederzeit angezündet werden konnte, bat Minnie um einen außerplanmäßigen Halt. Ihre Finger blätterten durch das Kondolenzbuch – und sie las die Namen aller Menschen, die seit dem 1. November gestorben waren:
Gertrud Knopinski.
Berthold Pellenhorn.
Marius Stamm.
Otto G. Klatsch.
Kai Bergmann.
Annette Kleine.
Nadine Nisse.
Klärchen Krause.
Herbert Powelz.
Bella Schiffer.
Jesse Zimmermann.
Dr. Z.
Die letzten Zeilen der Angehörigen für die toten Gäste beeindruckten die alte Dame sehr. Sie starrte auf die Worte, die der plumpe Matze Schiffer der verstorbenen Schönheitskönigin gewidmet hatte. „ Meistens hat, wenn zwei sich scheiden, einer etwas mehr zu leiden. Bella, Du bist
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