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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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heillos überfordert. „Sind Sie so was wie Charleys Tante ?“
    Olimpia klatschte in die Hände. „Ein schöner Vergleich – aus Ihrer Perspektive! Aber die Antwort lautet: nein. In Deutschland leben circa 120000 Transsexuelle. Diese Menschen haben nichts mit Drag-Queens wie der berühmten Olivia Jones zu tun. Drag-Queens sind Transvestiten, die nur mit dem Geschlechtswechsel spielen, indem sie sich schrill verkleiden. Für mich ist die Sache bierernst.“
    „Doch welcher Name steht in Ihrer Geburtsurkunde?“
    „Olimpia! Das deutsche Transsexuellengesetz erlaubt, dass wir Transsexuellen unsere Vornamen und unser Geschlecht in der Geburtsurkunde ändern dürfen.“
    „Dann sind Sie früher bestimmt ganz schön oft fertig gemacht worden, was?“
    „Klar“, sagte Olimpia. „Als die Lehrer merkten, was mit mir los war, dachten sie, meine Störung sei ansteckend. Auch die Ausbildung zum Krankenpfleger war ein einziger Spießrutenlauf. Aber ich kann heilfroh sein, dass ich nicht in Ländern wie der Türkei lebe. Dort wurden allein in den letzten zwei Jahren 49 Transsexuelle umgebracht, weil sich heterosexuelle Männer von ihnen bedroht fühlen. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. Aber soll ich Ihnen was verraten?“
    Minnie nickte.
    „Inzwischen ist das Leben für mich ein Zirkus der Identitäten und der fallenden Masken. Besonders in Haus Holle.“
    Olimpia hob ein Champagnerglas. „Auf uns, Minnie! Wir sollten Karneval feiern statt Weihnachten!“
    Zögernd hob Minnie ihr Glas und stieß mit Olimpia an. Irgendwie hatte die seltsame Dame Recht: Karneval war tatsächlich der beste Begriff für dieses unglaubliche Weihnachtsfest. Die alte Dame erkannte, dass der bevorstehende Jahresausklang Haus Holle komplett verändert hatte – und dass sich die Menschen im Hospiz langsam, aber unübersehbar, verwandelten.
    Der nahende Tod entfernte alle Masken.
    Gästen wie Marisabel stahl er sie mit brutaler Gewalt.
    Anderen entfernte er sie sanft und mit spitzen Fingern – wie Ruth, die zu Olimpia wurde. Und er veränderte sogar die Namen! Diese Erkenntnis wurde im nächsten Moment bestätigt, als Minnie ein Gespräch auf der anderen Tischseite belauschte.
    „Zum Weihnachtfest und als Ausdruck meiner tiefen Liebe“, sagte eine Frau, die neben einem Krebskranken saß, „mache ich Dir in diesem Jahr ein besonderes Geschenk. Ich möchte meinen Doppelnamen ablegen, und nur noch so heißen wie Du. Das hätte ich viel eher machen sollen. Es ist noch nicht zu spät dafür. Wenn Du mich irgendwann verlässt, wird Dein Nachname mit mir weiterleben. Ich hoffe, Du nimmst mein Geschenk an…“
    Der fremde Gast küsste seine Frau „Und das nach 39 Jahren! Das ist die schönste Überraschung der Welt!“
    Ja, das Fest verwandelte alle. Sogar Violetta Grünlich herzte ihren sterbenskranken, schlafenden Mann pausenlos. Ihre Eifersucht war wie weggeblasen, obwohl die schöne Estefania in unmittelbarer Nähe weilte. Doch die Latina hatte eh keine Augen für den kranken Golo. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte einem neuen I-Pad, das ihr ein Verehrer geschenkt hatte.
    Voller Stolz erklärte sie Rudi Weiß, wie ein Internet-Musikportal namens Youtube funktionierte. „Schauen Sie mal, Herr Weiß! Bei Youtube kann man alle möglichen Lieder hören, indem man die Songtitel in ein Suchfenster eintippt. Viele meiner Freunde haben mir heute Internetlinks mit Songs gemailt, die ich mir anhören soll, während ich an sie denke. Haben Sie schon mal Lieder, die man mit Ihnen verbindet oder die man Ihnen widmen möchte, geschenkt bekommen?“
    Rudi schlackerte mit den Ohren und überlegte. Scheinheilig rollte er mit den Augen, schielte in Estefanias Ausschnitt und sagte jein .
    Die Latina überhörte die Antwort. Ihre Fingernägel klickten pausenlos auf der Tastatur herum. „Schauen Sie mal, Herr Weiß! Dieses Lied hat mir meine Tante geschickt. Es heißt Für Dich soll’s rote Rosen regnen – es ist unglaublich romantisch…“  Zu Rudis großer Überraschung erschien eine Sängerin namens Hildegard Knef auf dem Bildschirm des modernen Mediums.
    Estefania war nicht zu bremsen. „Das folgende Lied von Heinz-Rudolf Kunze gefällt mir noch besser. Es heißt Dein ist mein ganzes Herz. Der Songtext berührt mich wirklich: Wir werden wie Riesen sein uns wird die Welt zu klein.“
    „Haben die auch Whitney Houston?“, fragte Rudi und schlackerte erneut mit den Ohren.
    Minnies Augen wanderten weiter. Sie vermisste zwei wichtige Menschen.

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