Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Geschenk der Bischöfin freuen würde. Sie versuchte es selbst – und tatsächlich, der Engel erwärmte sich schnell.
„Ein praktisches Geschenk, wenn man kalte Hände hat“, sagte Minnie und schaute sich die kleine Figur an. „Ich danke Ihnen.“
„Es ist auch ein Geschenk für das Herz“, entgegnete die Geistliche. „Der Engel wärmt sie, wann immer Sie mögen.“
Interessiert sah sie sich im Zimmer um, und suchte dann erneut den Blickkontakt zu Minnie. „Fühlen Sie sich bei Gott aufgehoben?“
„Ich fühle mich insgesamt gut aufgehoben“, erwiderte die weißhaarige Dame.
„Das ist gut“, sagte die Bischöfin, und erhob sich. „Ich muss noch einige Gäste in den anderen Zimmern besuchen. Nicht allen Menschen in Haus Holle geht es so gut wie Ihnen. Viele Menschen brauchen meinen Zuspruch. Wir sehen uns nachher.“
Sie hob die Hand und winkte zum Abschied.
Weihnachten im Hospiz – das war wie ein goldener Traum.
Der Gospelchor, den Minnie Anfang Dezember verpasst hatte, jubilierte auf der Treppe – als wolle er sie willkommen heißen. Jetzt war die Zeit gekommen, um alles Versäumte nachzuholen. Minnie staunte über die kräftigen Zähne der Sängerinnen, und sie bewunderte die bebenden Busen der Damen. „Die sehen aus wie die Nonnen in Sister Act “, sagte sie zu ihrer Tochter, als Ute den Rollstuhl ins Erdgeschoss schob.
Die Flügeltür des Grünen Saals war weit geöffnet. Während Minnie auf sie zurollte, schloss die alte Dame die Augen. Ihre Dankbarkeit war überwältigend. Gleich würde sie Weihnachten feiern. Vielleicht würde das Fest niemals enden.
Minnie tauchte in den funkelnden Weihnachtskosmos ein, öffnete die Augen – und sah den riesigsten Christbaum der Welt. Er war so groß wie drei Menschen, hatte ausladende Zweige, schimmerte in Gold, Grün und Rot und duftete nach frischer Tanne.
Und erst die Klangwelt! Am Klavier saß ein Pianist, dessen Finger flink über die Tasten flogen. „Jetzt fehlt nur noch mein Tanz mit Marius“, dachte die alte Dame selig. „Wäre er hier, hätte ich jedes der drei Feste, die ich versäumt habe, nachträglich geschenkt bekommen.“
Auch die Menschen erschienen Minnie wie verwandelt. Rudi tanzte mit einem jungen Mann, den er allen als Mick vorstellte. Sonjas Augen funkelten selig und Mutter Merkel spielte mit Fee. Sofort rannte das Kind auf den Rollstuhl der alten Dame zu. „Wie schön Du bist, Minnie! Fast wie ein Engel! Du hast Dich ja so verändert!“ Stolz hob Fee ein Päckchen hoch: „Diese nagelneuen Farbstifte hat mir Mutter Merkel geschenkt! Das sind schon die zweiten! Ich werde Mama damit malen. Heute durfte ich noch mal hierher kommen. Es ist so schön, Euch wiederzusehen. Ich wohne jetzt bei meiner Tante – und habe ein eigenes Pony!“ Das Kleinkind strich über Minnies Locken.
Doch die alte Dame erblickte auch neue Gäste.
Neben der Bischöfin, die in der Mitte einer großen, festlich gedeckten Tafel thronte, sah sie ein Ehepaar sowie den dicken und den dünnen Dietmar. Zu Minnies Erstaunen saß der magere Pfleger in einem Rollstuhl. Er war nicht wieder zu erkennen: Dietmar war kahlköpfig.
Bruno interpretierte ihren erstaunten Blick richtig. Er beugte sich zu Minnie hinunter und flüsterte in ihr Ohr: „Dass Dietmar jetzt ein Gast ist, war ein Schock für uns alle. Keiner von uns wusste, dass er seit langem an einem Non-Hodgkin-Lymphom erkrankt ist!“ Der Pflegehelfer seufzte. „Dietmar trägt sein Schicksal mit Fassung. Sein Freund ist immer an seiner Seite.“
Die alte Dame bemerkte, dass der dicke Dietmar die Hand des dünnen Dietmars hielt, während sich Hendrik um die beiden Ex-Pfleger kümmerte, die sich während Minnies langem Schlaf in einen Gast und seinen Angehörigen verwandelt hatten.
Jetzt fiel Minnies Blick auf Montrésors Rollstuhl. Adolf trug zwei Uhrglasverbände, sein kahler Kopf war voller Beulen. Trotzdem lachte er glücklich. Montrésor wurde von seiner Frau gefüttert. Fasziniert sah er zu, wie Kostja den Salat mit Croutons garnierte.
Doch es gab noch einen außergewöhnlichen Gast. Am Kopfende des langen Tisches saß die glamouröseste, auffälligste, schönste Dame der ganzen Weihnachtsgesellschaft. Sie erinnerte Minnie sofort an eine Königin. Die wunderschöne Dame funkelte wie ein glitzernder Paradiesvogel. Zu Minnies Erstaunen erhob sich die Fremde und kam mit wehenden Schritten auf sie zu.
„Da sind Sie ja“, sagte Ruth Bröckel. „Wie schön, dass Sie gekommen sind! Die
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