Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
haben wollen. Ich hole besser mal mein Strickzeug!“
Minnie nickte.
„Für mich ist es ein großes Glück, dass Sie nach Haus Holle gekommen sind, Olimpia. Bald muss ich jemandem eine Falle stellen – und den Tiger bis aufs Blut reizen. Dann kann ich eine kräftige Zwei-Meter-Frau mit Stricknadeln perfekt an meiner Seite brauchen. Aber lassen Sie ja Ihre High-Heels in Ihrem Zimmer. Sonst stolpern Sie noch, wenn uns das Raubtier angreift. Sie dürfen sich nicht das Genick brechen…“
Adolf Montrésor erwachte um 1.44 Uhr.
Er schleppte sich zu seinem Massagesessel und knipste die Leselampe an.
Weihnachten war Vergangenheit, die Zeit zwischen den Jahren war angezählt. In Haus Holle war es totenstill.
Jetzt fiel ihm der Name der alten Dame wieder ein: Ob Minnie inzwischen dagewesen war? Oder ob es seine Frau verbockt hatte, sie zu informieren?
Er hob das Pik-As vom Boden auf und erkannte mit einem einzigen Blick, dass die Patience seiner Frau gar nicht hätte aufgehen können. In verwirrtem Geisteszustand hatte Lisa Montrésor die Karten verschiedener Spiele miteinander vermischt. Neben Memory-Bildchen sah er den Schwarzen Peter sowie Quartettkarten, die die drei kleinen Schweinchen in ihren Häusern nebst dem bösen Wolf abbildeten, aber auch Tarot- und Mademoiselle-Lenormand- Zeichnungen, Zigeuner-Wahrsage-Karten und Orakel Dessuart -Abbildungen. Montrésor griff nach einer Spielkarte, die verdeckt auf dem Tisch lag und drehte sie um.
Sie zeigte einen lustigen Biber.
Verflucht!
Der Ex-Manager blickte an seinem ausgemergelten Körper herunter und fuhr sich mit den Händen durch die zerwühlten Haare, die seine zahlreichen Beulen nicht einmal ansatzweise verdecken konnten.
Dann entspannte er sich. Eigentlich gefiel ihm der seltsame Biber auf der Spielkarte. Seine Gedanken kreisten, bis ihn ein klägliches Miauen vor der Tür in die Wirklichkeit zurückholte. Ein kratziges Stimmchen bat ihn um Einlass. Doch er war zu müde, um aufzustehen. Sei’s drum: Mit Minnie würde er auch morgen noch sprechen können.
Innerlich lachte er über Lisas missglückte Patience. Was für ein Weib! Plötzlich hatte er Lust, ein neues Spiel zu erfinden. Er nannte es Dinge ordnen . Die Herausforderung dieses Spiels bestand darin, die Schatten im Zimmer gedanklich in Gegenstände zu verwandeln.
Das da… ja, das war die Fernbedienung. Unerreichbar auf dem Nachttisch. Egal – um diese Zeit lief eh kein Fußball.
Und dort… dort war der Alarmknopf.
Alles war an seinem Platz.
Leider spielte ihm sein Uhrglasverband laufend Streiche. Als er nach unten blickte, sah er, dass seine tischtennisballgroßen Hoden, die seinen Penis zur Gänze verdeckten, aus der Boxershorts hingen. Montrésor erkannte, dass das der Krebs war, der den Eindruck erweckte, als wäre er untenrum eine Frau.
Aber der Krebs fühlte sich gut an. Träge strichen seine Hände über die dünnen Beine.
Ein Maracujasorbet, hmm, das würde jetzt munden…
Durch seinen Kopf schossen die seltsamsten Gedanken. Wie schön wäre es zum Beispiel, nur noch mit Ja oder Nein antworten zu müssen, wenn ihn jemand etwas fragte. Oder nur noch zu nicken.
„ Haben Sie Schmerzen ?“, fragte der Pfleger in seinem Kopf.
„ Nein !“
„ Möchten Sie noch ein Stück Brot ?“
„ Ja !“
„ Möchten Sie Toast mit ganz dick Marmelade ?“
„ Ja !“
„ Möchten Sie sich eine Uhr kaufen ?“
„ Ja !“
Das neue Spiel ermüdete ihn. Montrésor schluckte schwer, und ein Tropfen fiel aus seiner Nase.
Sein Blick fiel auf den Kalender. Das vorderste Blatt zeigte den 18. Dezember. Das war falsch – oder? Egal.
„Möchten Sie, dass wir bis zum 10. April vorrücken?“, fragte der Pfleger in seinem Kopf.
„Ja!“, sagte Adolf und kicherte, weil er erkannte, dass er sich verwandelte. „So ist das“, meinte er leise.
„Was denken Sie ?“
„Ich denke immer was“, flüsterte Montrésor und zündete sich eine Zigarette an. „Auch ein Bier in der Hand ist nicht zu verachten.“
„Dann schlafen Sie gut“, sagte der Pfleger und Montrésor lobte seine schönen, warmen Hände.
Der Pfleger legte einen geöffneten Tabakbeutel unter Adolfs Nase. Er wusste, wie beruhigend das sein konnte. „Das Hirn narkotisiert sich selbst durch die CO2-Umkehr“, verriet der Pfleger, und bestrich Montrésors Lippen mit Milchkaffee. „Ich werde Ihnen auf den letzten Metern helfen.“
Der Pfleger war ein guter Mann. Er stellte Adolf N-TV an. Und er stellte gute Fragen:
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