Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
überbracht.“
„Kommt die alte Dame aus Zimmer 6?“
Lisa überlegte kurz. Was sollte sie jetzt sagen? Würde Adolf doch bloß weiterschlafen, statt sie mit seinen Fragen zu quälen.
Dann fiel ihr eine Lösung ein. „Die Tante schläft tief und fest“, sagte sie spröde und legte das Pik-As an eine neue Stelle. „Genau wie Du den ganzen Tag! Aber sie kommt, sobald sie wach ist. Jetzt schließ lieber Deine Augen und ruhe Dich noch etwas aus.“
Sie blickte auf das geschlossene Fenster.
„Und lass nicht immer die Winterluft ins Zimmer! Hier ist es ja eiskalt. Ich bin schon ganz durchgefroren. Wenn ich die Fenster nicht immer schließen würde, holtest Du Dir noch den Tod.“
Am frühen Abend des 26. Dezember kehrte endlich Ruhe ein in Haus Holle. Die letzten Angehörigen der Gäste saßen in Autos und Zügen, um sicher nach Hause zu kommen. Das Schneetreiben wurde immer dichter. Millionen von Flocken fielen vom Himmel.
Katharina schaute besorgt aus dem Fenster.
„Wenn das so weiter geht“, sagte sie zu Bruno, „muss der Schneeräumdienst morgen früh rechtzeitig anrücken. Sieh nur, die Schneedecke ist schon 60 Zentimeter hoch. Mutter Merkels Auto ist vollständig eingeschneit!“
Katharina gönnte sich einen heißen Grog, steckte sich eine Kippe an und stieß den Rauch sanft aus.
„Mensch, was waren in diesem Jahr wieder viele Gäste hier. Aber es war ein schönes Fest. Ob ich heute noch mit dem Großreinemachen beginne? Das waren doch bestimmt 40 Menschen, die die Türklinken angefasst haben.“
„Bullshit“, entgegnete ihr Kollege. „Morgen beginnt schon wieder die Zeit zwischen den Jahren. Dann hast Du genug Zeit dafür.“
„Stimmt“, meinte Katharina. „In der letzten Woche des Jahres scheint die Zeit still zu stehen. Die Menschen müssen nicht arbeiten gehen. Oder sie sind verreist. Der normale Alltag ist außer Kraft gesetzt. Ich finde diese Zeit einfach toll.“
„Ich habe immer das Gefühl, als hätte ich das ganze Jahr auf ein Ziel hingearbeitet, das mit Silvester endlich erreicht ist“, überlegte Bruno – „dabei geht es anschließend nahtlos weiter. Man ist niemals fertig. In Wirklichkeit kommt direkt ein neuer Anfang. Am 1. Januar fühle ich mich immer urlaubsreif.“
„Und wieder lassen wir so viele Menschen und die Erinnerungen an sie im alten Jahr zurück“, sagte Katharina. „Ich denke gerade an unseren Dietmar… Für mich ist es so schwer zu ertragen, dass einer unserer Kollegen plötzlich ein Gast ist!“
„Würdest Du ins Hospiz gehen, wenn die Uhr ticktack macht?“, fragte Bruno.
„Natürlich“, antwortete Katharina. „Du etwa nicht?“
„Nein“, gestand der Pflegehelfer. „Ich habe mir längst eine Tablette von einem befreundeten Arzt besorgt. Meinst Du etwa, ich will mich von Dir bis zur letzten Minute herumkommandieren lassen?“
Katharina lachte schallend.
Dann rauchten die Urgesteine von Haus Holle eine zweite Zigarette. Und eine dritte und eine vierte.
Um 21 Uhr läutete Minnies Telefon.
Olimpia reichte der alten Dame den Hörer und vertiefte sich wieder in eine Frauenzeitschrift.
Am anderen Ende der Leitung war Mike.
„Sie hatten Recht, was Cristiano betrifft“, sagte er. „Aber woher wussten Sie das?“
„Ich hatte den ganzen Tag Zeit zum Nachdenken“, antwortete die alte Dame. „Was haben Sie über die Vergangenheit der Person herausgefunden, deren Namen ich auf dem anderen Zettel notiert habe?“
„Nur eine Meldung über einen alten Schauprozess!“ erwiderte der Journalist. „Ist das nicht seltsam?“
„Genau das habe ich vermutet“, flüsterte Minnie. Und sie dachte an die Worte der rotweißen, schreienden Schneeflocke: Sieh in den Spiegel! Sieh doch endlich in den Spiegel – und erkenne die Wahrheit!
Die alte Dame legte ihre Hand auf die Muschel des Telefonhörers. „Ich möchte das nicht am Telefon mit Ihnen besprechen, Mike“, sagte sie leise. „Vielleicht hört uns jemand zu. Aber können Sie morgen noch einmal kommen, und mir den Artikel über den Schauprozess mitbringen? Am besten in aller Herrgottsfrühe! Wir müssen unbedingt miteinander reden!“
Mike versprach es.
„Vor Ihnen liegt eine lange Nacht, Mike. Ihr Kollege muss nochmal bei der Polizei anrufen, und Folgendes herausfinden…“
Sie gab dem Reporter letzte Instruktionen, und beendete das Gespräch.
Olimpia sah Minnie an.
„Klingt, als wären Sie in Gefahr“, sagte sie trocken. „Jetzt weiß ich, warum Sie mich wirklich hier
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