Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
besorgt, dass Sie gestern bei Tisch eingenickt sind. Vor allem Frau Prinz.“
Minnie gestand, dass sie sich an nichts erinnern konnte und schob es auf das Morphium.
„Das kenne ich“, sagte Annette. „Als ich meine erste Bombe bekam, war ich auch direkt wie geflasht , Minnie. Sie sind gestern schließlich zum ersten Mal in Ihrem Leben abgeschossen gewesen. Aber eines können Sie mir glauben: Das ist nichts im Vergleich dazu, wie einen die Medikamente im Krankenhaus lahm legen. Obendrein liegt man die ganze Zeit an Schläuchen und bekommt im Stundentakt Schmerzmittel. Ich war wochenlang ans Bett in einem Zimmer gefesselt, in dem ich nicht mal ein Fenster öffnen konnte. Es war die dreckigste Zeit in meinem Leben.“
„Damals dachte ich zweimal, dass Du sterben würdest“, erinnerte sich Angie. Sie wandte sich Minnie zu. „Deshalb haben wir auch am Krankenhausbett geheiratet. Möchten Sie die Fotos sehen?“
Bewegt nahm Minnie zwei Hochzeitsfotos, die Angie aus ihrem Portemonnaie zog, in ihre Hand. Auf den Bildern war Annette spindeldürr und aus ihrer Nase ragte ein riesiger Plastikschlauch.
„Den haben wir Elefantenrüssel getauft“, prustete Angie los. „Als Annette nach Haus Holle kam, ließ sie ihn sich als erstes rausziehen. Dass das noch mal passieren würde, hätten wir beide nicht mehr für möglich gehalten.“ Sie wurde nachdenklich. „Wenn wir damals schon ins Hospiz gezogen wären, hätten wir hier ein richtig großes Fest feiern können – mit Stehtischen und Sekt.“
„Aber die Krankenhaushochzeit war auch schön“, meinte Annette. „Obwohl der Tag total anstrengend für mich gewesen ist.“
Angie deutete erneut auf eines der Fotos. „Am Tag unserer Trauung hat sich Annette tierisch zusammengerissen. Die Standesbeamtin war für 9 Uhr bestellt, und mir schlotterten die Knie vor Aufregung, als ich das Krankenhauszimmer betrat. Ich konnte kaum fassen, dass Annette ihre letzten Kräfte mobilisiert und sich auf einen Klappstuhl gesetzt hatte. Sogar die Standesbeamtin hatte Pipi in den Augen.“
Minnie war gerührt.
„Damals hätte ich mir niemals vorstellen können, dass es mir wieder so gut gehen würde wie heute“, sagte Annette.
„Du bist eben ein Paradebeispiel für die Palliativmedizin, die in Haus Holle angewandt wird“, erwiderte Angie ernst. „Seit Du hier bist, sind 99 Prozent der Sorgen von mir abgefallen. Vor allem die Sorge, dass Du schnell stirbst.“
Minnie schnitt ein anderes Thema an. „Wie war das gestrige Klavierkonzert? Und wie war Nana?“
„Wir waren auch nicht da“, verriet Annette freimütig. „Aber soweit ich weiß, hat Marisabel Prinz der Abend sehr gut gefallen. Sie schwärmt immer noch von Nana Mouskouris Lied Aber die Liebe bleibt .“ Sie lachte schallend und klopfte sich auf die dünnen Schenkel. „Dafür haben Sie etwas anderes, wirklich Witziges verpasst, Minnie! Mutter Merkel ist gestern Abend, beim Ausparken und wegen einer falschen Drehung, rückwärts gegen den Poller vor dem Haus gefahren. Jetzt hängt er auf halb acht!“
„Die drollige Dame hat es auf ihn abgesehen“, fügte Angie an. „Ehe der Poller nicht völlig kaputt ist, wird sie nicht zufrieden sein.“ Sie drängte Annette, sich zu beeilen. „Wir haben heute noch einiges vor!“
„Was denn?“, fragte Minnie.
„Heute beziehe ich meine neue Wohnung“, verriet Angie. „Die alte haben wir zum 31. Oktober aufgelöst. Ohne Annette wird sie zu teuer für mich.“ Sie sah ihre Ehefrau an. „In meinem Leben bin ich schon 14 Mal umgezogen. Aber bislang ist mir kein Umzug so schwer gefallen wie dieser. In der kommenden Nacht schlafe ich zum ersten Mal in den neuen vier Wänden. Das will ich auf keinen Fall allein tun. Annette soll ihre Duftmarke dort setzen. Wäre sie in der kommenden Nacht hier, und ich dort, hätte ich das blöde Gefühl, mir schon jetzt mein eigenes Nest bauen zu müssen.“
„Aber erst bekomme ich noch eine Punktion von Dr. Coppelius“, meinte Annette und deutete auf ihren aufgeblähten Bauch. „So sieht eine Wassersucht aus, liebe Minnie!“
„Guten Morgen!“
Die mollige Gertrud Knopinski betrat das Esszimmer. Sie trug einen gemütlich aussehenden, himmelblauen Schlafanzug.
Minnie erwiderte den Gruß, die jungen Lesben nickten zurückhaltend.
„Mein Gott, wie mein Magen knurrt.“ Genüsslich rieb sich Gertrud den Bauch. Ohne ihren grässlichen Gatten im Schlepptau, entpuppte sich die alte Dame als eine unterhaltsame Entertainerin.
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