Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Sie ließ sich Käse servieren, gönnte sich ein Glas Chardonnay und verschüttete die Hälfte des Weins über den Pyjama, als sie von einem plötzlichen Hustenanfall überrascht wurde.
„Gut, dass mein Mann noch schläft“, sagte sie lachend. „Ein mit Chardonnay ruinierter Pyjama wäre ihm einen Skandal wert.“
„Ihr Mann ruht sich aus?“, fragte Minnie höflich.
„Ja, er hat die ganze Nacht über etwas gegrübelt“, ereiferte sich Frau Knopinski auskunftsfreudig. „Jetzt ist er so müde, dass ich das Schild mit der Aufschrift Bitte nicht stören an die Tür gehängt habe. Aber mir geht’s heute gut!“
Minnie konnte sie gut verstehen. Gertruds Dompteur fehlte.
„Vielleicht können wir mal zusammen spazieren gehen“, schlug Minnie der molligen Dame vor.
„Spazieren ist nicht mehr meins“, meinte Gertrud ehrlich. „Aber wie wäre es mal mit einer Schachpartie? Zuhause habe ich ein handgeschnitztes Spiel. Knut könnte es holen. Allerdings wohnen wir fünf Stunden entfernt.“
Erfreut sagte Minnie zu.
„Und vielleicht“, fuhr Gertrud fort, „gehen wir mal gemeinsam auf die Suche nach einem guten Restaurant im Viertel. Schließlich sind wir noch mobil. Ich habe noch so viel vor… Nicht auszudenken, dass…“
Sie brach mitten im Satz ab.
„Ja?“, ermunterte sie Minnie.
„Nicht auszudenken, dass einem hier eine Tür geöffnet wird, die zu einem Gang führt, in den man einfach reingehen soll. Das klingt so schrecklich! Es erinnert mich immer an Tolstojs Erzählung Der Tod des Iljowitsch . Als Iwan im Sterben liegt, leidet er unter dem Gefühl, von allen Seiten in einen schwarzen Sack gepresst zu werden. Finden Sie das auch so schrecklich?“
„Entschuldigung, was meinen Sie?“ Tolstoj war ein Fremdwort für Minnie. Sie las mit Vorliebe Utta Danella. Die Figuren in diesen Romanen erinnerten sie stets an ihre Schwestern. Außerdem hatte sie ein Faible für britische Kriminalromane.
Gertrud sah sie durchdringend an. „Ich meine Folgendes: Finden Sie es auch erschreckend, dass Sie bald einen Weg gehen sollen, den Sie noch nie gegangen sind?“
„Ja.“ Statt Minnie hatte Annette geantwortet. Die Augen der schwarzgelockten Frau verdüsterten sich, und sie fuhr fort: „Ich bin mit meinem Leben im Reinen. Nur eine Sache macht mich traurig. Ich kann mir nicht vorstellen, meine schöne Angie allein zurück lassen zu müssen. Wir waren noch nie getrennt.“ Plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen.
Angie nahm Annettes Hand und ergriff das Wort mit selbstbeherrschter Stimme: „Wir haben über alles geredet. Eines wird niemals der Fall sein – dass Annette mich verlässt. Es wird höchstens so sein, dass Annette gehen muss . Das ist ein Riesenunterschied.“
Minnie und Gertrud waren tief beeindruckt.
Die gutaussehende Lesbe war noch nicht fertig. „Wenn Annette eines Tages so krank ist, dass ihre Seele und ihr Geist nicht mehr in ihrem Körper bleiben können, muss sie beides los lassen. Ich möchte nicht, dass das, was Annette ausmacht in ihrem kranken Körper gefangen ist. Ich möchte, dass es Annette gut geht. Ich weiß, dass es ihr besser gehen wird, wenn sie aus ihrem Körper heraus geht. Im Krankenhaus war sie mir manchmal ganz fremd.“
Ein lauter Knall unterbrach ihr Gespräch. Weil er von draußen kam, blickte Minnie aus dem Fenster und sah, dass ein silberfarbener Golf rückwärts gegen den Poller gefahren war.
Mutter Merkel war zurück.
„Heute bekomme ich Besuch vom Bestatter!“
Bella Schiffer wälzte in Sarg-Prospekten. Keine einzige Sorgenfalte verunstaltete die Stirn der ehemaligen Schönheitskönigin. „Welchen Sarg ich bloß auswählen soll?“
„Dass Sie an so etwas denken!“ Marisabel Prinz fröstelte. Die Hundezüchterin lenkte das Thema umgehend auf sich selbst. „Andererseits… die reale Welt lässt einen ja nicht los, nur weil man jetzt hier lebt. Schauen Sie mal, was mir heute mit der Post ins Haus geflattert ist – Rechnungen über Rechnungen!“ Frau Prinz wedelte mit ein paar Blättern, und klammerte sich dann an ihre mit Hunden verzierte Teetasse. Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen, und sie fuhr mit zitternder Stimme fort. „Jetzt soll sich auch noch meine Tochter an meinen unbezahlten Rechnungen beteiligen. Das Leben ist so ungerecht!“ Die Hundezüchterin weinte bitterlich.
Minnie sah sie tröstend an. „Für Ihre unbezahlten Rechnungen findet sich bestimmt eine Lösung“, sagte die alte Dame.
„Es ist ja nicht nur
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