Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Uroma. Wie lautet Ihre zweite Frage?“
„Warum geben Sie sich so viel Mühe, um uns Gäste derart zu verwöhnen?“
Die Miene des jungen Kochs wurde ernst. „Viele der Todkranken, die ich bekoche, haben zerstörte Geschmacksnerven. Das ist eine häufige Nebenwirkung der Chemotherapie. Deshalb habe ich mir etwas vorgenommen. In der letzten Lebensphase möchte ich dazu beitragen, den Bewohnern ein bisschen Geschmack zurück zu schenken. Manchmal ist das nur durch eine Erinnerung an den Duft eines Gerichts möglich, ein anderes Mal durch dasselbe Aussehen. Außerdem lässt ein gutes Essen viele Gäste spüren , dass sie noch leben.“
„Wie Frau Krause, die so viel verschlingt?“
Kostja lachte. „Sie haben Omi schon kennengelernt?“ Er wurde leiser. „Für Omi bedeutet Essen Hoffnung. Als sie zu uns kam, war sie noch dünner. Inzwischen hat sie dreieinhalb Kilo zugenommen. Das passiert sehr oft in Haus Holle. Sobald unser Gäste mit optimalen Schmerzmitteln versorgt worden sind, fühlen sie sich besser. Dadurch erwacht der Hunger wieder. Je größer der Appetit wird, desto größer wird auch die Hoffnung, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können. Viele Gäste glauben, dass Todkranke nicht mehr zunehmen. Deshalb freuen sie sich über jedes zurück gewonnene Kilo. Und allmählich keimt auch die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder in die eigenen vier Wände zurückkehren können.“
„Bis…?“
„Darüber sollten wir jetzt nicht reden. Nicht, weil ich Ihnen Angst machen will, sondern weil wir heute leben.“ Er legte seine Hand auf Minnies. „Kein Tod ist wie der andere. Das Sterben lässt sich nicht planen. Deshalb koche ich ein Wunschgericht sofort, wenn mich ein Gast darum bittet. Am nächsten Tag könnte er schon tot sein. Wenn mich ein Gast um 17 Uhr um ein aufwändiges Gericht bittet, gehe ich gern noch zum Markt. Und das tue ich sogar, wenn ich weiß, dass der Gast nur einen halben Löffel schaffen wird.“
„Macht das denn Sinn?“, fragte die alte Dame.
„Klar! Lieber noch einmal genießen, statt auf etwas zu verzichten.“
„Und wenn ich eine einzige Gabel Spaghetti mit einer Spezialsauce bestelle, weil ich nur noch eine Gabel voll schaffe?“
Der Koch grinste. „Ich glaube, Sie haben längst verstanden, was ich Ihnen sagen will. Wenn Sie eine Gabel Spaghetti mit einer Spezialsauce bestellen, kriegen Sie exakt diese Menge. Mehr aufzutischen, wäre ein zu großes Risiko. Bei größeren Mengen besteht die Gefahr, dass mein Gast nicht mehr zugreift, weil er sich nicht selbst enttäuschen will.“
Die Hand des Koches zeigte zur Decke. „In der zweiten Etage wohnt ein Gast, dem sein Tumor die Speiseröhre zugedrückt hat. Er kann nicht mehr schlucken und darf nichts mehr trinken. Dennoch habe ich ihm eine Erbsensuppe gekocht, weil er sie sich gewünscht hatte. Davon hat er sich noch mal einen Löffel auf der Zunge zergehen lassen – und dann alles ausgespuckt. Doch dabei hat er gelächelt!“
„Nicht mehr schlucken zu können, muss furchtbar sein! Und er kann wirklich nichts mehr trinken? Leidet dieser Gast nicht schrecklich?“
„Im Gegenteil“, sagte Kostja. „Neulich meinte er zu seiner Frau, dass er hier Weihnachten feiern möchte. Wurde Ihnen nicht erklärt, dass wir Atemnot und Schluckprobleme lindern können? Genau wie Durst? Diese Probleme meistern wir spielend.“
In diesem Moment spürte Minnie zum ersten Mal ein neues Gefühl, das sie nur mit dem Begriff schön beschreiben konnte: Ein tiefes Vertrauen in die Fähigkeiten derjenigen Menschen, die in Haus Holle arbeiteten. Die Ärzte und Pfleger verstanden ihr Handwerk genau so gut wie Koch Kostja. Im gleichen Maße, wie das Vertrauen der alten Dame wuchs, schrumpfte ihre Angst.
Eine Stunde später hatte Dr. Coppelius Minnie verordnet, die Morphiumdosis zu halbieren. Nun saß die alte Dame bei einem weichen Ei am Esszimmertisch. Annette und Angie leisteten ihr Gesellschaft, während Kostja mit seinen Kochutensilien in der Küche klapperte.
Annette genoss ein blutiges Steak. „Nachher wirst Du Dich wieder übergeben…“, warnte Angie, und beäugte misstrauisch, wie gierig ihre Frau das Fleisch verschlang.
Annette blinzelte ihr fröhlich zu. „Egal! Gestern Nacht ist mir eine neue mathematische Formel eingefallen. Zehn Minuten Genuss minus eine Minute Erbrechen ergibt neun Minuten Genuss!“
Minnie und Angie lachten zustimmend.
„Ausgeschlafen?“, fragte Angie die alte Dame. „Wir waren richtig
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