Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Koch betrat das Esszimmer. Kostja brach das verlegene Schweigen. „Wie viele Gäste möchten heute speisen? Ich muss gleich den Tisch eindecken.“ Rasch zählte er die Runde ab.
Frau Prinz nutzte die Gelegenheit aus, um ihm eine Frage zu stellen. „Kochen Sie am Weihnachtsfest eigentlich was Besonderes? Den letzten Heiligabend habe ich im Krankenhaus verbracht. Dieses Jahr sollen meine Feiertage unvergesslich werden.“
„Natürlich“, erwiderte Kostja. „Weihnachten wird bei uns immer ganz groß gefeiert. Sogar die Bischöfin besucht uns. Letztes Jahr habe ich schon Anfang Dezember mit dem Menüplan angefangen und am Heiligen Abend rund 30 Gäste bewirtet. Später haben mir viele Gäste erzählt, dass sie das Fest zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder richtig genossen hätten, weil sie weder Sorgen, Einkaufsstress noch Ärger mit der Familie hatten.“
„Was haben Sie denn aufgetischt?“ Misstrauisch musterte die Hundezüchterin den blauen Haarschopf des Kochs.
Kostja ließ sich nicht verwirren. „Letztes Jahr gab es geräucherte Forelle und Wildlachs mit Feldsalat. Außerdem habe ich Wildente, Knödel und Rotkohl zubereitet. Und als Dessert ein köstliches Maracujaparfait!“
Frau Prinz’ Zunge fuhr über die Lippen.
„Das klingt verlockend. Aber gab es auch einen Christbaum?“
„O ja, ich möchte einen riiiiiiesigen Weihnachtsbaum!“
Eine fremde Stimme hallte durchs Esszimmer. Offensichtlich gehörte sie einem Kind.
Neugierig blickte Minnie zum Eingang, und sah in die blitzgescheiten Augen eines kleinen Mädchens, das einen Rollstuhl bis an die Tischkante schob.
„Nicht so schnell, Fee!“ In dem Gefährt saß eine junge Frau mit strähnigen Haaren. „Du bringst Mama sonst noch um!“
Einen derart schwungvollen Auftritt hatte Minnie bislang noch nie in Haus Holle erlebt.
Die Mutter grinste sie entschuldigend an. „Fee ist manchmal etwas hastig.“ Dann fiel der jungen Frau auf, dass sie sich noch gar nicht vorgestellt hatte. „Ich bin Nadine Nisse aus Zimmer 11, und das hier ist mein kleines Mädchen.“
Minne musterte das hochgelegte, linke Bein der jungen Mutter. Es war doppelt so dick wie das rechte.
Der forschende Blick der alten Dame entging der jungen Frau nicht. Sie fuhr sich durch die strähnigen Haare, die ihre Schultern bedeckten und fixierte ihren Oberschenkel. „Damit“, erklärte sie, „lässt sich nur noch mit Mühe und Not bis zum Klo kriechen. Mein linkes Bein ist dicker als Uwe Seelers in seinen besten Zeiten, stimmt’s? Was bei ihm Muskeln waren, ist bei mir ein großer Tumor, der sich mit Wasser vollgesogen hat.“
Sie fuhr mit trockener Stimme fort. „Tja, als Scheiß-Obdachlose mit HIV und Drogen in der Birne, geht man halt nicht immer zum Arzt.“
„Was ist eine Scheiß-Obdachlose?“, fragte Fee.
„Etwas, dass Du nie im Leben sein wirst“, antwortete Nadine. „Wenn Mama im Himmel sein wird, wovor ich eine Scheiß-Angst habe, wirst Du zu Tante Maria auf den Bauernhof ziehen. Dort gibt es Pferde, Hunde, Katzen – und viele, viele Grunz-Schweine.“
Alle Blicke richteten sich auf Nadines Kind.
Irgendwie schaffte es Professor Pellenhorn, der von einer über Nacht erblondeten Omi ins Esszimmer geschoben worden war, trotz seiner Lähmung ein buntes Bonbon hervor zu zaubern. Plötzlich lag es in seinem Schoß.
Fee ließ sich nicht zweimal bitten.
Nach dem Mittagessen ging Minnie zum ersten Mal in die Küche.
Kostjas Reich blitzte und blinkte. Über einem großen Herd baumelten zahlreiche Pfannen, Messer, Töpfe und Schalen. Auf dem Rollwagen des blauhaarigen Kochs standen drei Vitamindrinks. „ Nicht jeder mag täglich einen “, rief sich Minnie Kostjas Worte ins Gedächtnis.
Ihr stach eine Liste ins Auge, die über einer Anrichte hing. Sie enthielt alle Namen der Gäste, und verriet deren Essensvorlieben. Sie las:
Zimmer 1: Klärchen Krause. Großen Appetit auf alles. Mit farbigen Speisen verwöhnen.
Zimmer 2: Gertrud Knopinski. Alles außer Süßem. Chardonnay anbieten.
Zimmer 3: Adolf Montrésor. Kein Alkohol! Trockener Alkoholiker!
Zimmer 4: Bella Schiffer: Kleine Portionen. Kein Fisch. Gern Vitamine. Mag Sekt.
Zimmer 5: Professor Berthold Pellenhorn. Nur Püriertes! Nichts Hartes!
Zimmer 6: Minnie. Keine Graupen.
Zimmer 7: Sonja Merkel. Liebt Torten. Kaugummis anbieten.
Zimmer 8: Cristiano Vernandez. Nach Sonderwünschen fragen.
Zimmer 9: Marisabel Prinz. Vegetarierin. Gern
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