Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Körper – vor allem auf den Bauch und die Beine. Dann schlage ich jede Schale mit einem Trommelstock an. Das vermittelt Ihnen ein schönes Gefühl, denn Ihre Körperflüssigkeit wird die Klänge durch Ihren Körper transportieren.“
„Und was bringt das?“
„Sie werden ein wohliges, warmes Gefühl spüren. Außerdem fördert der Schall Ihr Urvertrauen. Er hilft Ihnen zu akzeptieren, was auf Sie zurollt. In einem Satz kann man das so erklären: Berühre einen Muskel – und Du berührst das Gefühl . Durch die Klangschalentherapie können Visionen, Bilder und Erinnerungen vor Ihrem inneren Auge auftauchen.“
„Damit könnten Sie jede Menge Geld verdienen“, meinte Frau Prinz. „Warum bieten Sie das kostenlos an, und dann auch noch in einem Hospiz?“
„Weil mich Hospize faszinieren“, antwortete die Klangschalentherapeutin. „Hier gibt es das, was die Menschen draußen verzweifelt suchen – eine echte Entschleunigung. Sie kennen doch diese Artikel wie Zehn Tipps für mehr Gelassenheit ? Ich möchte mir kein stressiges Leben schön reden. Komischerweise ist das Leben an Orten wie diesen lebendiger als das Leben da draußen. Mich macht’s einfach glücklich, hier zu arbeiten.“
„Das verstehe ich nicht“, erwiderte die Hundezüchterin. „Ich wäre am glücklichsten, wenn ich mich wieder richtig aufrappele.“
Die ehrenamtliche Mitarbeiterin widersprach ihr. „Jeder sucht sein Glück halt woanders. Mich erfüllt es viel mehr, anderen Menschen zu helfen, ihnen zuzuhören und ihre Hand zu halten, als Trockenshampoo und Ultra-Lift-Cremes zu vermarkten. Bislang waren die Gespräche in einem Hospiz immer unglaublich ehrlich. Man redet nicht mehr um den heißen Brei herum, außer, wenn die Gäste und ihre Familien das Sterben tabuisieren. Kürzlich habe ich einen Mann in Haus Holle behandelt, dessen Gattin wie eine Katze um das Thema Tod herumschlich. Ich spürte, dass sie gern darüber gesprochen hätte. Aber sie schob es immer weiter nach hinten hinaus. Plötzlich war es zu spät. Manchmal können Sterbende innerhalb weniger Stunden nicht mehr reden. Angeblich ist die Witwe deshalb in psychologischer Behandlung.“
Diese Geschichte schien die Hundezüchterin aufzuwühlen. „Ich muss mich unbedingt noch mit meiner Tochter aussprechen“, sagte Frau Prinz. „Aber ängstigt Sie dieses ganze Kommen und Gehen in einem Hospiz nicht auch manchmal? Oder halten Sie professionelle Distanz zu den Gästen?“
„Professionelle Distanz ist scheiße“, sagte die Ehrenamtliche. „Ich habe mich immer über Krankenhausärzte geärgert, die Masken aufsetzen, damit sie schnell zum nächsten Patienten eilen können. Professionelle Distanz entfremden die Menschen nur voneinander. Wer heutzutage Gefühle zeigt, gilt als schwach oder emotional. In Haus Holle tragen die Menschen keine Masken. Das finde ich so toll, dass ich mich bald zu einer Sterbe-Amme ausbilden lassen werde. Wenn ich das geschafft habe, darf ich die Gäste auch in den letzten Stunden begleiten – und kann sie im besten Fall lehren, dass sie ihre bevorstehende Verwandlung so annehmen können, wie Sie jenen Schall, der Sie gleich überrollen wird.“
Daraufhin nahm die unsichtbare Frau den Trommelstock in die Hand und schlug damit gegen eine Schale. Frau Prinz schwieg zum ersten Mal an diesem Morgen.
Plötzlich hatte Minnie den Eindruck, als ob Haus Holle zum Leben erwacht sei. Dann jedoch erkannte sie, dass etwas passiert sein musste. Die Pfleger eilten im Minutentakt zu Zimmer 8. Wenn sie es wieder verließen, geschah das mit einer Leichenbittermiene.
Minnies Wohnzimmersofa erwies sich als Logenplatz, und sie versuchte, sich zu erinnern, wer in Zimmer 8 wohnte.
Richtig! Cristiano Vernandez – der unbekannte Herr.
Neugierig musterte Minnie Cristianos Tür. Gerade trat Bruno heraus. Der Pfleger rollte mit den Augen. „Unleidlich“, fluchte er. „ Monsieur ist wieder unleidlich.“
In diesem Moment erschien Adolf Montrésor auf der Bildfläche. Minnie rief ihn sofort zu sich und deutete auf das fremde Zimmer. „Dort drinnen scheint was Schlimmes passiert zu sein! Seit ein paar Minuten geben sich die Pfleger die Klinke in die Hand!“
„Das ist immer so in 8“, sagte Adolf trocken. „Dort liegt ein schwieriger Patient.“
„Ein Gast mit einer schweren Krankheit“, korrigierte ihn die bellende Stimme des vorbeieilenden Brunos. „Aber das fällt in die Rubrik Geschäftsgeheimnis!“
Adolf zog den Kopf ein wie ein
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