Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Blauschimmelkäse, gern Rotwein, gern Antipasti. Täglich nach Sonderwünschen fragen. Vitamindrink ohne Milch aufschütten. Bei Früchten nach Abneigungen fragen.
Zimmer 10: Annette Müller: Mag frische Früchte und blutige Steaks.
Zimmer 11: Nadine Nisse. Isst alles.
Zimmer 12: Herbert Powelz. Kann weder essen noch schlucken. Trotzdem kleine Portionen anbieten.
Einen Moment lang staunte Minnie über die Vorlieben ihrer Mitbewohner. Der Inhalt von Kostjas Liste deckte sich mit ihren Beobachtungen über die komplizierte Hundezüchterin, die schönheitsbewusste Frau Schiffer, die um ihr Gewicht besorgte Omi und Annettes Vorliebe für Fleisch. Einzig, dass Adolf Montrésor früher ein Trinker gewesen war, hätte Minnie nicht vermutet.
Neben der Anrichte stand ein Tablett mit farbigen Plastikbechern. Die alte Dame kannte es bereits. Es war das Tablett für die Pillen.
Minnie öffnete den Kühlschrank und sah Eiswürfel in allen möglichen Farben. Der blauhaarige Koch verwahrte sie in unterschiedlichen Boxen. Jede Box war anders etikettiert. Die alte Dame lernte: Rote Eiswürfel schmeckten nach Kirschen, gelbe nach Ananas.
Kostjas Reich gefiel Minnie, und es weckte ihre Lust auf eine größere Sightseeingtour. Die alte Dame fuhr in den zweiten Stock, wo sie ein öffentliches Wohnzimmer fand, das direkt an den Flur angrenzte. Den Mittelpunkt dieses Zimmers bildete ein riesiges Holz-Terrarium mit Gaze- und Glaseinsätzen. Müde ließ sich Minnie auf einem Ledersofa nieder.
Fasziniert von den langsamen Bewegungen eines Chamäleons folgte ihr Blick der Echse, die sich zwischen Drachenpalmen und Zwergpfeffer versteckte und sich dann mithilfe eines Seils, das am Ast eines Gummibaums befestigt war und hinunter baumelte, emporhangelte, bis sie den Schlafplatz eines Artgenossen erreicht hatte.
Die Bewegungen hypnotisierten den neuen Gast. Minnie schlief ein.
„Ich nehme alles mit, was hier angeboten wird. Wissen Sie, dass eine Klangschalentherapie zur Körperharmonisierung 50 Euro kostet?“
Marisabel Prinz’ Stimme ließ Minnie aus dem Schlaf aufschrecken. Offensichtlich war die linke Seite des Wohnzimmers eine dünne Trockenbauwand. Die alte Dame konnte jedes Wort verstehen, das in 9 gesprochen wurde.
Gerade fragte die Hundezüchterin ihr unbekanntes Gegenüber, was es über den gestrigen Neuzugang denke.
„Ich habe Minnie noch nicht kennengelernt“, antwortete eine fremde, weibliche Stimme. „Aber jetzt müssen Sie einen Moment lang ruhig sein, Frau Prinz.“
Doch die Hundezüchterin fuhr ungerührt fort. „Minnie sieht schrecklich weiß aus. Vielleicht wäre eine Bluttransfusion angebracht?“
Die Antwort war ein langes Schweigen.
Auch Frau Prinz schwieg kurz. Doch dann legte sie erneut los. „Meine Güte! Womit sich die Zeitungen heute wieder beschäftigen… Angeblich hat die Sängerin Beyoncè Knowles bei Barack Obamas zweiter Amtseinführung nicht live gesungen. Und der hochgebauschte Pferdefleisch-Skandal. Die Journaille ist empört! Wen interessiert das?“
Minnie hörte das Rascheln einer Zeitung. Das Geräusch unterbrach die Plauderlaune der Hundezüchterin nur für ein paar Sekunden.
„… und dann das hier: Prinz Harry hat Taliban getötet. Wenn Sie mich fragen, steckt dahinter eine Imagekampagne, um von seinen Nacktfotos in Las Vegas abzulenken. Dass die Briten die Royals so lange finanzieren… Schön dumm! Genau wie die Kanzlerin! Ich gebe ja zu, dass ich selbst eine CDU-Wählerin bin. Aber was die Bundeskanzlerin treibt, empört sogar mich! Zuerst pumpt sie Milliarden in Griechenland, und jetzt betreibt sie auch noch Weiberwirtschaft. Wie kann sich Merkel nur auf die Seite von Schavan schlagen, die als Bildungsministerin unter Verdacht steht, bei ihrer Doktorarbeit geschummelt zu haben? Vollstes Vertrauen – pah! Wer Merkels vollstes Vertrauen hat, tritt kurz darauf zurück – das habe ich inzwischen gelernt. Diese Politiker… Zumindest darüber muss ich mich bald nicht mehr aufregen.“
„Sie sollten sich überhaupt nicht aufregen“, antwortete die fremde Stimme. „Konzentrieren Sie sich lieber auf die Klangschalentherapie.“
„Hach, seien Sie nicht so. Für einen Plausch ist immer Zeit. Finden Sie nicht?“
„Frau Prinz! Ich kann nicht mit der Klangschalentherapie anfangen, wenn Sie ständig reden!“
„Wie wirkt der Zauber eigentlich?“, fragte die Hundezüchterin.
„Ganz einfach! Ich packe jetzt verschiedene Schalen aus und stelle sie mitten auf Ihren
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