Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
geprügelter Hund. Er senkte seine Stimme und gab Minnie sein Wissen preis. „Cristiano Vernandez ist circa 40 Jahre alt. Er kommt aus Portugal und liegt seit Wochen splitterfasernackt in seinem Bett. Er ist vom Kopf bis zum Scheitel querschnittsgelähmt.“
Minnie war entsetzt.
„Woher wissen Sie das?“
„Von einem Gast, der früher mal in Ihrem Zimmer gewohnt hat und mit Cristiano befreundet war. Vor zwei Jahren hat der arme Cristiano einen Knoten im Nacken ertastet. Doch er ging zu keinem Arzt, weil er nicht in das Chemo-Karussell einsteigen wollte. Das hat sich brutal gerächt.“
Minnie hatte schon oft gehört, dass Menschen ihre Krankheit verdrängten. Über die Konsequenzen wusste sie wenig. Sie kannte niemanden, der gar nicht gegen seinen Krebs kämpfte.
„Was geschah daraufhin?“, fragte sie atemlos.
„Cristiano lebte einfach weiter. Vor sechs Monaten bekam er wahnsinnige Rückenschmerzen und ging endlich zu einem Arzt. Dessen Diagnose war niederschmetternd. Inzwischen hatte sich der Krebs von seinem Nacken bis in die Wirbelsäule vorgearbeitet. Alles war voller Metastasen. Eine Woche später zerbrachen seine Rückenwirbel wie eine morsche Holzleiter. Seitdem ist er komplett gelähmt.“
„Ist der arme Mann ansprechbar?“, fragte Minnie.
„Soweit ich weiß, ja“, antwortete Marisabel, die sich schleichend heranbewegt und alles mit angehört hatte. „Anfangs habe ich Cristiano ein paar Mal besucht. Da konnte man noch mit ihm reden. Aber er verweigert alle Schmerzmedikamente. Er nimmt kein Morphium.“ Marisabels Stimme schoss in die Höhe. „Ich habe gehört, dass Cristiano alle zwei Minuten umgebettet werden will, weil die Metastasen in seinem Rücken schrecklich schmerzen. Angeblich dauert es Stunden, bis er die perfekte Liegeposition gefunden hat. Mal müssen ihn die Pfleger zwei Zentimeter nach rechts legen, dann wieder einen nach links. Das Ganze ist eine Millimeterarbeit.“
„Glauben Sie, es ginge ihm besser, wenn er eine Chemotherapi e gemacht hätte?“, fragte Adolf.
„Natürlich“, rief die Hundezüchterin. „Schauen Sie mich an – ich habe es auch getan, und mir geht’s blendend.“ Marisabel schlug ihre mageren Beine übereinander. „Ich bin so fit, dass ich noch auf Pferden reiten kann. Neulich stand meine Tochter mit einem Pony vor der Tür. Sie wollte mir einen Herzenswunsch erfüllen.“
„Ganz schön gefährlich, wenn man bedenkt, dass Sie Knochenkrebs haben“, meinte Adolf. „Kann Ihr Skelett nicht zerbröseln, wenn Sie dem Gaul vom Buckel rutschen?“
„Pah“, rief die Hundezüchterin. „Nach dem Ritt schmerzte lediglich mein Hintern, weil er neuerdings so schlecht gepolstert ist. Aber ich bin überzeugt, dass es mich gar nicht mehr gäbe, wenn ich keine Chemos gemacht hätte. Außerdem kenne ich noch ein Geheimnis von Cristiano, das ein ganz anderes Licht auf seine schlechte Laune wirft.“ Frau Prinz verschränkte die Arme.
„Raus mit der Sprache“, sagte Adolf. „Welches Geheimnis?“
„Er wollte sich mit der Hilfe einer professionellen Sterbehilfeorganisation töten“, flüsterte die Hundezüchterin, „und einen Giftcocktail trinken. Doch dieses Vorhaben scheiterte am fehlenden Geld. Jetzt muss Christiano hier sterben. Deshalb ist er übellaunig.“
„Eine traurige Geschichte“, meinte Minnie.
„Pah!“, entgegnete Marisabel Prinz nüchtern. „Schließlich gibt’s unter jedem Dach ein Ach .“
„Da bist Du ja!“ Lächelnd betrat der Psychologe Minnies Zimmer. „Wie geht’s Dir heute?“
„Sehr gut“, erwiderte die alte Dame. „Aber ich wundere mich ein bisschen darüber, dass ich immer so müde bin. Kann man dagegen nichts machen?“
„Wir könnten Dich für eine Nacht ins Krankenhaus bringen lassen“, sagte Andreas. „Dort bekämst Du eine Blutwäsche. Anschließend wärst Du wieder hellwach und klar. Die Frage ist nur…“
Der Psychologe brach mitten im Satz ab. Er gab sich einen Ruck und fuhr fort. „Du solltest Dir überlegen, ob das sinnvoll ist.“
„Natürlich ist das sinnvoll“, rief Minnie. „Schließlich bin ich immer müde! Wie lange hält der Erfolg der Behandlung an?“
„Bestimmt eine Woche“, meinte Andreas. „Momentan ist die Anzahl Deiner roten Blutkörperchen sehr gering. Deinem Blut fehlt Sauerstoff.“
„Dann rufe bitte im Hospital an.“
„Gut“, sagte Andreas. „Wir teilen Dir den Termin mit.“
Eine halbe Stunde später wurde Minnie durch Stimmen aufgeweckt, die aus
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