Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
dicke Dietmar vor einem dampfenden Kaffeebecher. Hendrik erzählte seinem Kollegen, was sich im ersten Stock ereignet hatte. „Bei Montrésor drückt etwas von innen gegen das rechte Auge – wahrscheinlich eine neue Metastase. Ich lege ihm einen Uhrglasverband an. Kommst Du hier zurecht?“
Dietmar bejahte. „Im zweiten Stock ist alles ganz ruhig. Nicht mal Cristiano rührt sich. Wenn Du Hilfe brauchst, ruf mich!“
Um 22 Uhr war Adolfs rechtes Auge verbunden. Unter dem Uhrglas bildete sich rasch Kondenswasser. Plötzlich jedoch halluzinierte der Kranke von Kühlschränken, die er überall im Zimmer zu sehen glaubte. „Warum haben die alle die gleiche Temperatur?“, fragte Adolf.
„Ist Ihnen kalt?“, erkundigte sich Hendrik.
„Nein“, herrschte ihn der Gast an. „Mir wird gleich ganz heiß, wenn ich mich daran erinnere, was Sie mit meiner Frau gemacht haben. Ich weiß genau, dass Sie schamlos ausnutzen, dass sie alles wieder vergisst. Außerdem ist Ihnen gerade etwas aus der Hosentasche gefallen.“
Er reichte Hendrik einen Casino-Chip.
„Ihre Frau hat Alzheimer“, antwortete Hendrik ungerührt. „Und ich habe kein Verhältnis mit ihr. Ich habe eine feste Freundin.“
„Hahahahaha“, sagte Adolf höhnisch. „Ich habe genau gesehen, wie sie Ihnen die Beine entgegengestreckt hat – in meinem eigenen Wohnzimmer, auf der Couch!“
Schweigend hörte sich Hendrik die Vorwürfe an.
„Sie bestreiten es?“, fragte der Kranke. „Verleugnen Sie auch die Lichtsignale vorm Fenster? Meine Frau und Sie kommunizieren seit Jahren mit Taschenlampen. Auf diese Weise verrät sie Ihnen, dass ich eingeschlafen bin. Aber diesen Gefallen erfülle ich Ihnen heute Nacht nicht.“
Hendrik war besorgt. Eigentlich hätte er Adolf in dieser Situation ein Beruhigungsmittel geben können. Doch diese Entscheidung wollte er nicht allein treffen. Stattdessen plante er, Dietmar zu fragen. „Ich bin gleich zurück“, sagte er deshalb und eilte die Treppen zum zweiten Stock hoch.
Als Hendrik die Tür zum Pflegezimmer aufstieß, war Dietmars Stuhl leer. Sein Kollege schien bei einem Gast im zweiten Stock zu sein.
Am Kopf der Treppe wäre der dicke Dietmar fast über Fees roten Spielball gestolpert. Trotz seines Gewichts – Dietmar wog 115 Kilo – fand er sein Gleichgewicht im letzten Moment wieder, und trat wütend gegen den Ball, woraufhin Nepomuk aus dem Nichts auftauchte und dem Spielzeug hinterher raste.
„Katzen und Kinder“, ärgerte sich der Pfleger.
Er war auf dem Weg zu Cristiano, der vor zwei Minuten nach ihm geläutet hatte.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu Zimmer 8. Cristiano hatte immer üble Laune. Heute Nacht jedoch fand Dietmar den Kranken in bester Stimmung vor.
Ein dünnes Laken bedeckte seinen nackten Körper. Cristiano starrte gegen die Decke.
„Zeit zum Plaudern?“, fragte Cristiano.
„Natürlich“, sagte Dietmar und zog sich einen Stuhl ans Bett. Dass Cristiano reden wollte, geschah zum ersten Mal, seit er den Portugiesen kennen gelernt hatte.
„Ich glaube, heute Nacht stößt mir etwas zu“, meinte Cristiano. „Sieht man mir das an?“
Der dicke Dietmar musterte den Kranken eindringlich, bevor er ihm antwortete.
„Du siehst gut aus – wie immer. Aber dass Du Dir Gedanken über Dein Sterben machst, ist normal. Das passiert fast allen, wenn ihr Körper immer schwächer wird, und der Geist noch voll arbeitet.“
Cristiano seufzte. „Aber theoretisch kann ich schon in einer Minute mit den Augen rollen und im nächsten Moment tot sein. Stimmt’s?“
Dietmar antwortete ihm, wie es den Pflegern in Palliative Care-Seminaren beigebracht worden war. Er spielte die Frage zurück, verkleidete sie jedoch als Antwort: „Was mit Dir los ist, weißt Du bestimmt selbst am besten.“
Cristiano verdrehte seine Pupillen. „Das hast Du doch auswendig gelernt.“ Er schielte, ließ die Zunge aus dem Mund hängen und zog sein Gesicht zusammen. „Jetzt siehst Du’s – ich bin tot.“
Dietmar musste unwillkürlich lachen.
„Im Ernst“, meinte Cristiano. „Ich mache mir hier eine Menge Gedanken…“
„Was geht Dir durch den Kopf?“
„Zum Beispiel, dass ich den Kampf gegen den Krebs nur körperlich verloren, ihn aber geistig besiegt habe.“
Dietmar schwieg. Er spürte, dass Cristiano noch etwas anderes auf dem Herzen hatte. Der Kranke wollte sich mitteilen. Dietmars innerer Psychologe war gefragt. Auffordernd blickte er Cristiano an, und der Kranke fuhr fort.
„Ich
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