Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
hatte ein schönes, aufregendes Leben. Was ich erlebt habe, würden einige Menschen nicht mal erleben, wenn sie so alt würden wie Methusalem. Ich habe mit meiner großen Liebe zusammen gelebt, hatte einen tollen Job als Facharzt, fuhr einen Jeep – und hatte eine Katze namens Willi sowie ein eigenes Pferd. Auf all das habe ich mich konzentriert und es in vollen Zügen genossen, statt die Zeit nach der Entdeckung des Knotens in meinem Nacken mit Chemotherapie zu verschwenden.“
„War das eine gute Entscheidung?“, fragte Dietmar.
„Die beste!“, sagte Cristiano triumphierend. „Durch meinen Job als Facharzt weiß ich ganz genau, wie das Medizinsystem funktioniert. Bei Krebs geht es den Ärzten nicht immer um die Heilung, sondern auch um ihre Gewinnmaximierung. Wusstest Du, dass nur 30 Prozent der Unterleibskrebsarten bei Frauen richtig therapiert werden? Die Schuld daran tragen zum Teil die Pharmazeuten. Viele üben starken Druck auf die Onkologen aus, und manche von denen lassen sich nur allzu gern durch Luxusreisen und Zuschüsse bestechen.“
„Das ist ein sehr starker Vorwurf. Worauf basiert diese Erkenntnis?“
Cristiano lachte spöttisch auf. „Ich habe selbst erlebt, dass bei einer Privatpatientin, die bereits im Sterben lag, eine Lebertransplantation durchgeführt wurde. Diese Maßnahme kostete 90.000 Euro! Noch Fragen?“
Bevor der dicke Dietmar antworten konnte, vibrierte der Piepser in seiner Hosentasche.
Zimmer 11.
Nadine Nisse verlangte nach ihm.
Ruckartig stand der Pfleger auf. Bevor er Cristianos Zimmer verließ, wandte er sich dem Gelähmten noch einmal zu. „Soll ich noch mal wiederkommen?“
„Ja, bitte“, flüsterte Cristiano. Plötzlich klang seine Stimme heiser. In letzter Zeit geschah das immer öfter. Außerdem überfiel ihn ein Würgeanfall.
Dietmar nickte, und eilte zur Tür hinaus. Nadine Nisse hatte erneut nach ihm geläutet.
Der dicke Pfleger rannte ins Nebenzimmer.
Er öffnete die Tür, und traute seinen Augen nicht.
Nadine lag zusammengesunken in ihrem Bett.
In ihrem Unterarm steckte – Dietmar konnte es nicht fassen – eine leere Spritze.
Glücklich starrte die Kranke den dicken Pfleger an.
In diesem Moment läutete Cristiano wieder nach ihm.
„Du musst mir sofort helfen!“
Dietmar fand Hendrik im Pflegezimmer.
„Was ist los?“, fragte sein Kollege.
„Daueralarm bei Cristiano! Außerdem hat sich Nadine einen Schuss gesetzt!“
Im Eiltempo einigte man sich darauf, dass Hendrik das Problem mit Nadine übernahm, während der dicke Dietmar Cristiano zuhörte. Dass sich der Gelähmte gegenüber einem ehrenamtlichen Mitarbeiter, Priester oder gar Pfleger öffnete, hatte noch niemand erlebt.
Deshalb eilte Hendrik zu Nadine, und Dietmar zurück zu Cristiano.
„Gerade lief auf SAT.1 ein Film mit Katarina Witt als Stalking-Opfer“, sagte Nadine so strahlend, als würde sie in einer anderen Welt schweben. „Mann, war der langweilig! Eislaufen konnte die Witt ja… Aber schauspielern? Nee! Aber anscheinend denken die TV-Bosse, dass sie die Zuschauer mit einem großen Namen und inhaltlichem Müll begeistern können. Meine Tochter ist viel klüger. Sie verschwendet ihre Zeit nicht so wie ihre dumme Mama und kann aus Scheiße Gold machen.“
Zufrieden blickte sie auf Fee, die auf dem Boden saß und mit zwei Dominosteinen Kätzchen und Pferd spielte.
„Nein, das Pferdchen will nie an die Leine!“, jauchzte das Kind trotz der späten Uhrzeit.
„Warum schlaft Ihr nicht?“, fragte Hendrik.
„Weil uns das Telefon ständig weckt“, sagte Nadine. „Wir haben schon um 20 Uhr gepennt, aber dann ging die blöde Kiste plötzlich los.“
Hendrik hatte viel Geduld. Lügner jedoch verabscheute der Pfleger. „Du hast eine Geheimnummer, Nadine! Dich kann niemand angerufen haben.“
Die Kranke schmollte. „Ist ja egal… Aber ich sage die Wahrheit.“
Nadine wandte sich erneut dem Spiel ihrer Tochter zu. „Wenn ich das sehe“, sagte die junge Mutter, „mache mir keine Sorgen um mein Kind. Fee hat eine universelle Seele, die nie altern wird. Sieh’ nur in ihr Gesicht, Hendrik – wie peacig!“
Die Kleine klebte an den Lippen ihrer Mutter. „Mama hat sich mal mit elf Polizisten geprügelt“, sagte Fee stolz.
„Das war, weil mir ein Exfreund den Solarplexus abgedrückt hat“, sagte Nadine. „Solche Männer verlässt man nicht. Solche Männer kann man nur dazu bringen, dass sie einen verlassen.“
In diesem Moment läutete das Telefon
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