Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
wenn ich das Schild mit der Aufschrift Bitte nicht stören leicht nach rechts gezogen hätte?“ Mit einem Ruck richtete sie ihre blassblauen Augen auf Bella. In ihren Haaren wippten die Lockenwickler.
Entgeistert starrte die junge Frau die ältere an. „Ich weiß nicht… Sie hätten…“
„Natürlich hätte ich Sie gesehen. Mit einer Sektflasche. Und mit einem männlichen Wesen. Aber das war – und ich sehe noch sehr gut – nicht Ihr Gatte.“
Annette prustete los. „Du hattest einen One-Night-Stand, Bella?“
Ärgerlich schüttelte sich die schöne Frau. „Ich muss mich nicht rechtfertigen.“ Zornesrot stand Bella Schiffer auf. „Tschüss jetzt. Mein Mann erwartet mich! Ich werde heute die Wohnung putzen.“
Kaum hatte Bella die Tischrunde verlassen, prasselten tausend Fragen auf die Hundezüchterin ein.
„Wer war der Typ?“, wollte Annette wissen. „Hatte Bella Sex mit ihm?“
Marisabel gab sich kalt. „Nein – hatte sie nicht. Wenn Du Enthüllungen hören möchtest, bist Du bei mir an der falschen Adresse. Ich wollte Bella nur darauf aufmerksam machen, dass sie mich nicht zu kritisieren hat. Man sollte sich nicht mit mir anlegen.“ Die Hundezüchterin goss sich einen Tee ein. „Ich habe immer einen so trockenen Hals. Weiß jemand, woher das kommt?“
„Im Zweifelsfall vom Provozieren“, stichelte Angie.
„Mein lieber Gott!“, rief Marisabel. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“
Berthold Pellenhorn gluckste.
Doch Frau Prinz war nicht zu bremsen. „Ich weiß auch, dass hier keine Freundschaften entstehen. Aber es gibt einen Zusammenhalt.“
Von hinten legte sich eine Hand auf Marisabels Schulter. Unbemerkt war Bruno ins Esszimmer getreten. „Manchmal entstehen in Haus Holle sehr wohl Freundschaften und manchmal bahnen sich sogar Liebschaften an. Aber wie könnten Sie das wissen, Frau Prinz? Zum letzten Mal passierte es schließlich lange vor Ihrem Einzug.“
Omi klatschte mit hochrotem Kopf in die Hände. „Liebschaften? Hier? In Haus Holle?“
„Ja“, bestätigte Bruno. „Cliquen hatten wir hier schon öfter. Zwar liegt der Großteil unserer Gäste meistens im Bett, aber manchmal entstehen Cliquen wie ihre. Manchmal gibt es auch enge Freundschaften. Im Sommer lebten hier zwei Frauen, die sich sehr eng angefreundet hatten. Doch nach zwei Monaten baute eine der Damen ab. Mit einem Mal lag sie im Sterben.“
„Davon will ich nichts hören!“ Mit einem flinken Satz eilte Omi aus dem Esszimmer.
Nachdenklich blickte ihr der Pfleger nach und fuhr fort. „Die andere Dame wollte das Sterben ihrer Mitbewohnerin nicht akzeptieren. Sie weigerte sich sogar strikt, ihre beste Freundin nochmal zu besuchen. Dafür hatte sie eine passable Ausrede parat: Ich könnte mir den Tod holen, wenn ich sie besuche – und mich mit der Grippe anstecken, die sie erwischt hat. Aber ich besuche sie, wenn sie wieder gesund ist. Dann werden wir gemeinsam ins Grüne fahren! Natürlich kam alles ganz anders. Eine Woche, nachdem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, mussten wir die Kerze anzünden – und den Namen der besten Freundin auf die Tafel schreiben. Als die andere Frau das sah, brach sie zusammen. Sie hatte den Tod verdrängen wollen. Nun holte er sie gewaltsam ein.“
Marisabels Löffel fiel auf den Tisch. „Und anschließend?“, fragte sie atemlos.
„Dr. Albers konnte die Frau dazu überreden, das Zimmer der Toten zu betreten. Es war der Raum, den Sie bewohnen, Frau Prinz.“ Der Pfleger zwinkerte. „Zuerst weigerte sich die Dame standhaft, das Zimmer zu betreten. Irgendwann jedoch schaffte es Andreas, dass sie sich ein Herz nahm, und gemeinsam mit dem Psychologen ging die Dame hinein. Als sie ihre tote Freundin sah, blickte sie sich im Zimmer um und musterte die unzähligen Teelichter. Langsam ging sie auf das Bett zu, in dem ihre Freundin lag – und flüsterte Wie friedlich sie aussieht! Anschließend war sie eine Stunde lang allein mit der Toten. Als sie heraus kam, war sie geheilt.“
„Geheilt?“, fragte die Hundezüchterin. „Wovon geheilt?“
„Von ihrem Schock, von ihrer Angst, von ihrer Verdrängung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie war plötzlich zufrieden, und starb zwei Tage später. Ich habe selten eine Tote gesehen, die so glücklich aussah wie sie.“
Annettes Augen wurden groß.
„Versteht Ihr, was ich Euch damit sagen will?“, fragte Bruno. „Wenn Ihr an den Ritualen teilnehmt, die hier täglich zelebriert werden, werdet Ihr
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