Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
ist, sollte er das auch dürfen. Eine klammernde Hand signalisiert jedoch, dass er bleiben muss, weil der Tod etwas Schlechtes sei. Die allermeisten Menschen sterben, wenn sie kurz losgelassen werden. Hier ist mal ein Mann verstorben, als ihn seine Tochter drei Sekunden lang los ließ, um sich nach einem heruntergefallenen Handtuch zu bücken.“
Minnie konnte das nachvollziehen. Befriedigt war sie immer noch nicht. „Was passiert aus medizinischer Sicht im Körper, wenn Menschen sterben?“
Andreas ließ nach Dr. Coppelius rufen.
Fünf Minuten später saß der Schmerztherapeut am Esszimmertisch und erklärte: „Seit dem Moment unserer Zeugung hat sich unser Körper sekündlich erneuert. Das endet mit dem Beginn des Sterbens. Eiweiße und Fette werden ab- statt aufgebaut. Jetzt wird jede Nahrung zur Qual, es können nur noch die Tumore wachsen. Der Mensch selbst wird weniger, und er verliert sein klares Bewusstsein. Äußerlich wirken viele Sterbende unruhig, weil ihre Atmung brodelt und weil es zu Atempausen kommt. Das Gesicht wird spitz und klein. Zu diesem Zeitpunkt sehen und hören die Sterbenden nur noch wenig. Zuletzt sehen sie gar nichts mehr. Erst erfolgt der Herztod, dann der Hirntod. Daraufhin zersetzt sich der Körper, denn er bekommt keinen Sauerstoff mehr zugeführt. Zuerst sterben die Zellen des Herzgewebes, dann die der Leber und der Lunge, ganz zu m Schluss versagen die Nieren. Der Artikel Nochmal Leben von dem Tod von Beate Lakotta aus dem Magazin Der Spiegel beschreibt das sehr schön!“
„Aber was nehmen die Sterbe nden wirklich in den letzten zehn Minuten ihres Lebens wahr?“, fragte Minnie. „Wissen die Mediziner inzwischen, dass diese Zeit wirklich nicht qualvoll ist?“
„Ja“, antwortete Dr. Coppelius. „Alle Vorgänge des Sterbens laufen automatisiert ab. Vor dem Tod ereignet sich übrigens oftmals ein weiteres Phänomen. Die Sterbenden lesen Flocken .“
„Flocken?“, staunte Annette.
„Ja! Die Finger des Sterbenden zittern unruhig in der Luft oder über der Bettdecke – als wollten sie nach Schneeflocken greifen.“
„Klingt beunruhigend“, sagte Minnie. „Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Der medizinische Fachbegriff dafür heißt Krozidismus “, erklärte Dr. Coppelius. „Ich garantiere Ihnen, dass Ihre Wahrnehmung zu diesem Zeitpunkt total getrübt ist. Alles wird automatisch geschehen. Außerdem wissen Sie bestimmt, dass viele Sterbende noch einen Lebensfilm und ein helles Licht sehen, das sie anlockt, nachdem sie durch einen Tunnel geschwebt sind. Oder denken Sie an den amerikanischen Neurochirurgen Eben Alexander, der sieben Tage im Koma lag und anschließend seine ganze Weltsicht korrigierte, weil er ein Mut machendes Nahtoderlebnis hatte. Er traf in der Zwischenwelt auf eine wunderschöne Frau, die ihm ohne Worte sagte, dass er zutiefst geliebt würde.“
Minnie, Bella und Annette schwiegen.
„Jetzt nochmal zu Eurer Besorgnis wegen Knut und Gertrud Knopinski“, sagte Bruno. „Ich habe keine Ahnung, warum es so ist – aber im November und Februar ereignen sich die meisten Todesfälle in Haus Holle. Deshalb bin ich nicht erstaunt, dass das uralte Ehepaar gemeinsam das Zeitliche gesegnet hat.“
Dr. Albers nahm Minnie zur Seite.
„Haben wir Deine Fragen nun ausreichend beantwortet? Wie geht es Dir mit dem neuen Wissen?“
„Ich habe ein gutes Leben gehabt“, antwortete die alte Dame. „Meine Einstellung war immer positiv. Insofern muss ich mir anscheinend keine Sorgen machen…“
„Das vermute ich auch“, sagte Andreas. „Aber ich möchte die Gelegenheit gern beim Schopf ergreifen, um mehr über Dein Leben zu erfahren. Ich muss mir ein Bild davon machen, wie Du in Haus Holle klar kommst.“
Minnie lachte. „Du möchtest ein Interview mit mir führen? Ich bin 84 Jahre alt geworden, aber ich bin noch nie interviewt worden. In Ordnung…“
Gemeinsam zogen sich der Psychologe und die alte Dame in Minnies Zimmer zurück. Dort setzte sich Andreas an den kleinen Tisch und nahm einen Bilderrahmen in die Hand.
„Sind das Deine Töchter?“
Minnie bejahte. „Sie heißen Clara und Ute. Damals waren sie 29 und 30 Jahre alt. Mein Wilhelm und ich hätten immer gern einen Sohn gehabt. Aber das Leben wollte es anders.“
„Mein Wilhelm?“, fragte der Psychologe.
„Das war mein Mann“, verriet Minnie. „Mein Wilhelm und ich waren immer auf Reisen. Kannst Du Dir vorstellen, dass wir alle europäischen Hauptstädte bereist
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