Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
haben? Am Ende fehlte uns nur noch eine einzige – Monaco. Doch bevor wir die auch noch anschauen konnten, ist mein Wilhelm plötzlich gestorben.“
„Wie kamst Du allein klar?“
Minnie antwortete ehrlich.
„Anfangs habe ich mich verkrochen. Doch nach ein paar Wochen habe ich nur noch das Schöne gesehen. Allerdings wäre ich niemals alleine nach Monaco gereist. Außerdem wurde ich selbst kurz nach Wilhelms Tod krank. 2002 wurde mir die Gallenblase rausgenommen, ein Jahr später meine Milz. Und jetzt, zehn Jahre später, habe ich dieses Urothel .“
„Was hast Du in den zehn Jahren nach Wilhelms Tod gemacht?“, fragte der Psychologe.
„Ich habe mich des Lebens erfreut. Meistens bin ich spazieren gegangen, und habe nach neuen Torwegen gesucht. Die ziehen mich magisch an. Dann sind nach und nach meine Geschwister gestorben. Ich war die Jüngste von uns sieben. Im nächsten Leben möchte ich mal die Älteste sein, um all meine Lieben länger um mich zu haben.“
Andreas erkannte, dass bereits viele Abschiede hinter der alten Frau lagen. Doch in Minnies Blick spiegelte sich noch etwas anderes – fehlende, innere Ruhe.
Das bestätigten ihm die nächsten Worte. „Manchmal war es schwer, zu akzeptieren, dass alle Menschen um mich herum gestorben sind. Aber ich konnte niemanden dafür verantwortlich machen, vor allem nicht Gott. An den glaube ich nicht mehr, seit ich weiß, was Hitler im Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Adolf Hitler habe ich dreimal getroffen. Ich bin ein nachtragender Typ.“
Andreas nickte. „Welche Charaktereigenschaften passen noch zu Dir?“
„Ich bin ehrlich und treu“, antwortete Minnie. „Manchmal wurde mir gesagt, dass ich eine blühende Phantasie habe. Außerdem war ich immer pünktlich, und ich würde nie im Leben einem anderen Menschen etwas wegnehmen.“
Der Psychologe war beeindruckt. „Wie gestaltest Du Deine Freizeit am liebsten?“
„Ich schaue gern alte Filme, zum Beispiel mit Erol Flynn. Oder die Pilcher-Filme mit ihren seichten Dialogen und schönen Landschaften. Am Abend lese ich gern Bücher, etwa Romane von Utta Danella und Krimis von Agatha Christie.“
„Wie gefällt Dir Haus Holle?
„Ich wollte immer ein Zimmer mit einem Ausblick auf eine Wiese haben wie Johanna Matz in einem ihrer Filme… Leider erinnere ich mich nicht mehr an den Titel. Aber in Haus Holle habe ich diesen Ausblick nun mit 84 Jahren bekommen – direkt vor meinem Fenster.“
„Was bedauerst Du?“
„Dass meine Wohnung aufgelöst wurde. Außerdem muss ich dringend zum Friseur.“
„War es eine gute Entscheidung, dass Du auf meinen Rat gehört hast und nach Haus Holle gezogen bist?“
„Jein“, sagte Minnie. „Ich habe zwar ja gesagt, weil mein Verstand es mir riet, doch mein Gefühl hinkt immer noch hinterher.“
„Wie endgültig ist Deine Entscheidung, dass Du noch eine Blutwäsche willst?“
„Endgültig“, antwortete Minnie.
„Dann kommst Du morgen ins Krankenhaus.“
Plötzlich schaute der Psychologe Minnie tief und fest in die Augen. „Durch die Blutwäsche wirst Du wieder zu Kräften kommen. Außerdem wird sie Dein Leben verlängern. Aber Du sollst eines wissen: Dadurch steigt die Gefahr eines Blutsturzes. Noch könntest Du sanft einschlafen, ohne einen plötzlichen Tod zu riskieren.“
„Die Blutwäsche will ich trotzdem bekommen“, beharrte Minnie. „Es gibt noch eine große Sache, die mir unter den Nägeln brennt. Es wäre viel zu früh, um zu sterben.“
Veränderungen
Falk Berger hatte eine Sondersitzung einberufen. Genauer gesagt, ein Verhör.
Der Hospiz-Leiter wollte genau wissen, was sich in der Todesnacht von Knut und Gertrud Knopinski ereignet hatte. Er nahm Dietmar und Hendrik ins Kreuzverhör.
Angespannt berichtete Hendrik seinem Vorgesetzten von Montrésors psychotischem Anfall, seinem Ausflug ohne Kleider und von Annettes Zusammenbruch.
Auch Dietmar zeichnete die Geschehnisse der Nacht vom 2. auf den 3. November minutiös nach. Er ließ kein Detail aus. Als der Hospizleiter erfuhr, dass Cristiano stundenlang mit den Pflegern geredet hatte, ließ er Dr. Albers rufen. Er witterte die Möglichkeit, endlich zu erfahren, warum sich der kranke Portugiese so vehement gegen Morphium sträubte. Andreas machte sich viele Notizen.
„ Außerdem gab es in der Nacht noch ein weiteres Problem“, sagte der dicke Dietmar. „Nadine hat sich Drogen gespritzt, während ihre kleine Tochter im selben Zimmer war.“
„Das akzeptiere ich nicht“,
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