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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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Anne aus dem Raum gingen.
    Eines Tages gelang es Dr. Albers, Anne aus der extremen Lage zu befreien. Der Psychologe sorgte sich seit längerem um die völlig erschöpft wirkende Ehefrau und ihren Sohn, der nebenbei Artikel für seinen Arbeitgeber schrieb – und das Hospiz nur ein einziges Mal verlassen hatte, um Sonja Zietlow und Dirk Bach vor dem Start der nächsten Staffel des Dschungelcamps zu interviewen.
    „Wir machen heute einen Ausflug“, sagte Andreas, und streichelte Annes Arm.
    „Ich darf nicht…“, erwiderte die Ehefrau, doch der Psychologe meinte sanft: „Ihr Mann schläft gerade. Sie haben Zeit für eine Stärkung.“
    Anne ließ sich überzeugen.
    „Ich will Ihnen mal die Geschichte von einem Gast erzählen, der vor vielen Jahren hier lebte und gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder eingezogen war“, sagte Dr. Albers auf dem Weg zum Esszimmer. “Die Brüder waren 25 Jahre alt, als sie in Haus Holle ankamen. Einer der beiden war todkrank. Bis dahin hatten sie ihr ganzes Leben miteinander verbracht. Sie wohnten sogar in derselben Wohnung. Doch der gesunde Bruder konnte das Leid des Kranken nicht verkraften. Er wich nicht mehr von seiner Seite.“
    Anne war zwar erschöpft, aber clever. Mit dem Instinkt einer Frau, die stets zu wissen glaubte, was andere dachten, ahnte sie, dass Dr. Albers sie entlasten wollte. Sie war keine Frau, die entlastet werden wollte.
    Trotzdem hörte sie sich die Geschichte an.
    Dr. Albers fuhr fort.
    „Die Zwillingsbrüder klammerten sich eng aneinander. Ich musste intensive Überzeugungsarbeit leisten, bis der gesunde Bruder den kranken Bruder loslassen konnte – damit er überhaupt sterben konnte. Irgendwann habe ich den gesunden Bruder überreden können, mich mal probeweise ins Wohnzimmer zu begleiten. Ein paar Tage später konnte er schon längere Pausen machen. Schließlich aß er sogar mit den anderen Gästen und Angehörigen.
    Die Augen des Psychologen wurden weich und sehr traurig. „Bei Ihnen ist das ähnlich, Frau Powelz. Für Sie ist es genau so wichtig, dass Sie das Zimmer Ihres Mannes verlassen. Sie müssen auch an sich denken – und sich jetzt schon behutsam an den Gedanken gewöhnen, dass es ein Leben nach dem Tode Ihres Mannes geben wird.“
    Fragend sah die kleine Frau den Psychologen an. „Über das Danach denke ich nach, wenn es soweit ist.“
    Dr. Albers nahm sie in den Arm. „Über das Danach können wir auch zusammen nachdenken. Haus Holle hat eine Art Zweigstelle, in der Angehörige, die besonders unter dem Verlust eines geliebten Menschen leiden, später Trauerarbeit leisten können.“
    „Das schaffe ich allein“, sagte Anne.
    Doch um endlich Ruhe zu haben, betrat sie das Esszimmer.
     
    „Eine neue Bewohnerin!“, sagte Omi, die heute blond war. „Sind Sie gerade eingezogen?“
    „Anne Powelz ist eine Angehörige“, erwiderte Dr. Albers. „Sie wird jetzt öfter mit uns essen.“
    Beschämt blickte Klärchen Krause zu Boden. „Ich dachte nur, weil Sie so… weil… Sie sehen so… müde aus…“
    Heute half Klärchen dem Koch, indem sie Kartoffeln schälte.
    Als nächstes stach Anne eine rothaarige Frau mit ondulierten Locken ins Auge, die fahrig und nervös wirkte. Dann sah sie zwei Lesben – und nahm sich vor, ihren Sohn öfter zum Essen hinunter zu schicken, denn Mike war ebenfalls vom anderen Ufer. Die bunte Gesellschaft würde ihm gut tun, auch wenn sich kaum mit dem älteren Herrn im Rollstuhl, der sie an einen lächelnden Buddha erinnerte, aber trotzdem unglaublich freundliche Augen hatte, reden ließ und die letzte Dame am Tisch – sie war extrem geschminkt und regungslos – in eine innere Starre verfallen zu sein schien.
    Fast unsichtbar hinter dem gelassenen Mann saß ein dünner Herr, der sein langes Haar um seine Glatze gewickelt hatte und Anne entfernt an ihren Gatten erinnerte, weil er die gleichen Augen hatte.
    Ein Lächeln überflog ihr Gesicht. Es wurde prompt erwidert. Der Kranke stand auf, schritt um den Tisch und gab ihr die Hand: „Gestatten? Adolf Montrésor! Neben mir ist noch ein Platz frei.“
    Anne folgte der Einladung. Kostjas Köstlichkeiten ließen die müde Frau ihr Leid für einen Moment vergessen.
    „Meine Frau war auch bei mir“, sagte Adolf. „Doch gestern ist sie ausgerutscht und hat sich etwas gebrochen. Jetzt liegt sie im Krankenhaus. Das ist das Schlimmste, was mir in dieser Situation passieren konnte.“
    Anne war eine mitfühlende Frau, die gut zuhören konnte. Mehrmals im Leben war

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