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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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weinen, um für ihn stark zu sein – beschloss Herbert zu kämpfen.
    Die Nebenwirkungen seiner schweren Chemotherapie zwangen ihn wochenlang ins Bett. Außerdem drohte ihm eine Blutvergiftung. Ostern verbrachte der 63-Jährige, um sein Leben kämpfend, im Krankenhaus. Doch er rappelte sich immer wieder auf. Ab Ende September jedoch lag er nur noch in der Klinik. Dort hatte das Ehepaar ein wunderschönes Zimmer bekommen.
    Auf Nachfrage erfuhr Anne, dass es ein Palliativzimmer sei.
    Die Chemotherapie wurde eingestellt – weil aufgrund des aktuellen Gesundheitszustands derzeit keine Behandlung möglich sei , Herr Powelz sich aber bei besserem Wohlbefinden erneut vorstellen solle .
    In Wahrheit jedoch drückte der Tumor Herberts Speiseröhre zu – und das, so wussten die Mediziner, drohte bald auch der Luftröhre. „Sie werden nichts mehr essen können“, sagte die behandelnde Ärztin.
    Kurz darauf trank Herr Powelz den letzten Kaffee seines Lebens.
    Das Ehepaar weinte gemeinsam.
    Es ließ den Priester kommen, denn Herbert glaubte an Gott. Als er die Letzte Ölung erhielt, gestand er, sich auf Maria, die Muttergottes, zu freuen.
    Einen Tag später riet eine so genannte Brückenschwester , die zwischen Kliniken und Hospizen vermittelte, den besorgten Angehörigen, Herrn Powelz nach Haus Holle bringen zu lassen.
    Damit stand der Familie eine schwierige Aufgabe bevor. Doch Herberts Sohn, ein Reporter, meisterte sie. Er brachte seinem Vater das Thema näher, indem er ihm den aus seiner Sicht faszinierenden Artikel Nochmal leben vor dem Tod vorlas, den die Journalistin Beate Lakotta für den Spiegel geschrieben hatte. Diese Reportage hatte er seit Jahren für den Fall der Fälle aufbewahrt.
    Sie erzählte nicht nur vom Culture Clash – dem Aufeinandertreffen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in Hospizen – sondern auch von den letzten Lebenswochen mehrerer Berliner. Und, am unvergesslichsten: Ein Fotograf hatte die Sterbenden kurz vor ihrem Tod fotografiert – und direkt danach. So etwas hatte Herberts Sohn noch nie gesehen.
    Als er seinem Vater die Reportage vorgelesen hatte, flüsterte er: „Ich nehme den Platz in Haus Holle.“
    In der nächsten Nacht jedoch überlegte es sich der Kranke anders, denn ein Albtraum hatte ihn vor der Entscheidung gewarnt. In diesem Traum lag Herbert unter einem Lastwagen, der ihn einklemmte. Tags darauf fürchtete er sich davor, nicht mehr nach Hause zurück zu können, wenn er erst mal im Hospiz sei.
    Wenige Tage später jedoch hatte er plötzlich ein Einsehen. Nun wollte er doch nach Haus Holle. Ein Krankenwagen holte ihn ab. Beim Abschied aus der Klinik bildeten die Krankenschwestern ein Spalier. Sie hatten Herberts freundliche Art sehr geschätzt.
    Anne indes, die mit ihrem eigenen Auto hinter dem Krankenwagen her fuhr, dachte: „Beim nächsten Mal ist es der Leichenwagen, der ihn befördert.“
    Ihr Mann zog in Zimmer 12 ein, und das Gros der Last fiel von Anne ab. Pfleger Dietmar hatte auf den ersten Blick gesehen, dass die Gattin extrem erschöpft war. Sie bekam einen Kaffee, während Herbert umgehend ins Bett geholfen wurde. Das Morphium wurde neu dosiert, und gegen die Atemnot gab es Tavor.
    Am nächsten Tag konnte der Schwerkranke zum ersten Mal seit Wochen baden – umgeben von Teelichtern. Es war Herberts bester Tag in Haus Holle. Seither ging es gesundheitlich bergab.
    Nur ein einziges Mal hatte er sich von seiner Tochter und seinem Enkel ins Esszimmer schieben lassen, dort aber nur fünf Minuten verweilt. Herbert war viel zu erschöpft.
    Auch seine Ehefrau kam niemals ins Esszimmer. Der Todkranke wollte sie nicht mehr von seiner Seite lassen. Anne schlief seit Wochen auf einem Gäste-Klappbett, ihr Sohn Mike häufig im Sessel. Das war wichtig für den Vater, dessen Augen die beiden suchten, sobald er erwachte. Aber ständig im Hospiz zu sein, war auch wichtig für Mike, der keinem seiner Freunde und Freundinnen erklären musste, dass er nicht anders konnte, als ganz dort zu sein, wo sein Herz war. Er musste die letzten Lebenstage mit seinem Vater verbringen und er wusste, dass auch seine Schwester ständig dort gewesen wäre, wenn sie sich nicht um ihren kleinen Jungen hätte kümmern müssen. Doch körperliche Anwesenheit war ohnehin nicht notwendig, schließlich war Stefanie mit dem Herzen immer beim Rest der Familie. Das Fundament der Familie hieß Liebe.
    „Meine Leibwächter“, flüsterte Herbert häufig. Doch er ärgerte sich auch, wenn Mike oder

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