Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
innerlich ganz ruhig. Ihr solltet nicht immer zusammenzucken oder Euch so streiten wie Bella und Marisabel, wenn sich etwas im Haus verändert. Wenn Ihr Euch in die Sterbeprozesse anderer einbringt, erscheint Euch der Tod immer natürlicher. Aber wenn Ihr das Thema verdrängt, dann wird diese Natürlichkeit von Angstphantasien überlagert.“
Annette stand auf. Wackliger als vor einer Woche stützte sie sich auf den Esszimmertisch. „Hiermit lade ich alle ein, mich an meinem Totenbett zu besuchen, wenn ich gestorben sein werde“, sagte sie feierlich.
Gemeinsam mit Angie ging sie zur Tür hinaus.
„Natürlich zerbricht unsere Clique eines Tages“, meinte Marisabel, als auch Bruno gegangen war. „Aber muss dieser Pflegehelfer seine Erzählungen immer so ausschmücken? Er ist doch kein Psychologe.“
„Was hat er Ihnen erzählt?“ Dr. Albers stand im Türrahmen.
„Dass wir geerdet werden, wenn wir mitbekommen, dass andere Gäste sterben. Und dass wir dadurch lernen können, den Tod als etwas Natürliches zu betrachten.“
Marisabel brachte Brunos Quintessenz so gut auf den Punkt, wie sie konnte. „Aber ich finde, Bruno schmückt das Ganze zu sehr aus. Manchmal wirkt es, als fasziniere ihn der Tod.“
„Ist er denn nicht faszinierend?“, fragte der Psychologe. „Schön schrecklich oder schrecklich schön? Diese Begriffe kennt doch jeder. Allerdings hätte Bruno nicht unbedingt auf die Lebensgeschichten anderer Gäste zurückgreifen müssen, um Ihnen das zu erklären. Ein Hinweis auf die Kerze hätte genügt.“
„Inwiefern?“, rief Marisabel.
„Nun, das Anzünden der Kerze stößt dem einen oder anderen Bewohner natürlich auf, weil es ihn daran erinnert, dass ein Toter im Haus liegt. Aber es führt auch dazu, dass man sich damit beschäftigt, wofür dieses Haus steht. Es ist ein Haus, in dem unsere Gäste sterben werden.“ Andreas sagte es klar und deutlich.
„Um mich daran zu erinnern, braucht es keine Kerze“, entgegnete Marisabel. „Mir reicht es völlig, dass der Leichenwagen alle Tage vor der Tür steht.“
„Das hat doch denselben Sinn“, meinte Andreas mit fester Stimme. „Bei Haus Holle fährt der Leichenwagen weder im Dunkeln vor noch vor einem Seiteneingang – sondern direkt vor dem Hauptportal. Alle sollen ihn sehen! Es trägt dazu bei, dass niemand den Tod verdrängt. In Haus Holle wird kein Blatt vor den Mund genommen, nur weil der Tod nicht in unsere Leistungs- und Jugendgesellschaft passt.“
Unbehaglich räusperte sich Marisabel. „Ich habe mal eine ganz andere Frage“, sagte die Hundezüchterin. „Würden Sie mir bei der Suche nach einer Seniorenwohnanlage helfen – falls ich wieder gesund werde? Ich denke dabei an eine Kommune, in der junge und ältere Menschen zusammenleben.“
Der Psychologe nickte ernsthaft.
„Natürlich, Frau Prinz.“
Die Zwillingsbrüder
Anne Powelz, die Frau des Gastes aus Zimmer 12, hatte es nicht leicht gehabt in ihrem Leben.
Als sie ein halbes Jahr alt war, starb ihr Vater. Die Mutter zog ihren Bruder und sie alleine groß. Später war Herbert gekommen – und sie hatten sich verliebt. Das Glück jedoch ließ auf sich warten. Nach der Geburt eines gesunden Jungen, den sie Mike getauft hatten, bekam die junge Frau ein zweites Kind. Carsten jedoch war immer krank gewesen. Eines Tages fiel er tot in der Küche um. Er wurde nur drei Jahre alt. Der untröstlichen Mutter blieb keine Zeit für ihre Trauer, denn ihr standen weitere Todesfälle bevor. Innerhalb eines einzigen Jahres verlor sie ihre eigene Mutter und eine geliebte Tante, musste sich obendrein um den dementen Großvater ihres Mannes kümmern und ständig mit sehr wenig Geld hauswirtschaften.
Nun stand ihr ein weiterer, ungewollter Abschied bevor.
Am Heiligabend des Vorjahres hatte ihr Mann am Vormittag – während er den Weihnachtsbaum schmückte – plötzlich seine Stimme verloren. Innerhalb von nur 15 Minuten war er heiser geworden. Seitdem konnte er nur noch flüstern.
Die Stimme war nie mehr zurückgekehrt.
Ein Bronchialkarzinom drückte auf seine Stimmbänder. „Ihr Mann ist sehr schwer krank“, sagte der Hausarzt mit ernstem Gesicht. Diesen Satz würde Anne nie mehr vergessen.
Auf Nachfrage erfuhr die besorgte Ehefrau, dass ihr Mann nun ein Palliativpatient sei. Man könne seine Leiden noch lindern, aber nicht mehr kurieren. Der Krebs würde ihn das Leben kosten.
Während Anne ihr Schicksal annahm – und sich schwor, in seiner Gegenwart nicht zu
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