Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
waren von einer schiitisch-ismailitischen Dynastie ermordet worden, den so genannten Fatimiden. Gemeinsam mit Gleichaltrigen floh ich per Floss über ein Meer, bis ich im Nildelta nahe einer Moschee landete. Dort lebte ich viele Jahre lang, wurde Vater einer Tochter, sah meine erste Frau sterben, baute ein Haus, hatte eine Geliebte, und konsumierte ständig eine Naturdroge aus blauen Blumen – die Lotusblüten. Genau wie meine ganze Kommune.“
„Faszinierend! Aber kannten Sie die Ortsnamen, Dynastien und Pflanzen vorher?“
„Nein. Ich hatte nie zuvor von Latakia, den Fatimiden und den Lotusblüten gehört. Für Theosyphus jedoch zählten all diese Dinge zu seiner Alltagswelt. Meine eigene Stimme erzählte Ursula mit der größten Selbstverständlichkeit davon. Ich durfte alles auf Tonband mitschneiden. Zwei Arbeitskolleginnen haben sich den Mitschnitt später angehört, und waren verblüfft. Auf dem Band ist auch die Schilderung meines eigenen Todes zu hören. Ursula bat mich, ihn nochmal zu erleben.“
„Bitte… erzählen Sie… Was geschah mit Theosyphus?“
„Am Morgen seines Todes erwachte er frühzeitig – und wollte wie immer schwimmen gehen. Die Mitglieder der Kommune schliefen noch tief. Seine Füße schritten zu einem Felsen, von dem er schon tausendmal ins Meer gesprungen war. Wie immer wollte er einen Kopfsprung machen. Als er sich in der Luft befand, und dem Wasser entgegen sauste, erlitt er einen Herzinfarkt. Er war direkt tot. Sekunden später, Zeit gab es nicht mehr, schoss sein Körper wie ein Pfeil ins Meer – tiefer und tiefer und immer tiefer. Alles wurde eiskalt.“
„War das schmerzvoll?“, fragte Minnie.
„Kein bisschen. Ich fühlte, wie ich in eine kalte Materie eindrang und gleichzeitig über allem schwebte. Zeit und Raum gab es nicht mehr. Aus der Vogelperspektive sah ich jene Menschen, mit denen ich mein Leben verbracht hatte, schlafend und glücklich unter Palmen liegend. Die Szenerie war völlig friedlich.“
„Wer hat Sie dort oben gesehen?“
„Niemand“, antwortete Mike. „Nur mein treuer Esel, an dem mein Herz sehr hing, blickte nach oben und sah mir tief in die Augen. Es war eindeutig ein Abschied.“
Minnie atmete tief aus. „Eine Rückführung möchte ich auch erleben – bevor ich sterbe! Würden Sie Frau Demarmels für mich kontaktieren? Und würde sie wohl hierher kommen? Natürlich bezahle ich jeden Preis!“
„Ich bin mir sicher, dass sie das macht.“ Seit seiner Rückführung in sein angebliches Zwischenleben hatte Mike den Kontakt zu Ursula Demarmels niemals verloren. Er war sich sicher, dass sie kommen würde, wenn er ihr von Minnie erzählte.
„Was haben Sie rückblickend betrachtet durch die Autopsien bei Doktor Tsokos gelernt?“, fragte Minnie.
„Dass wir Menschen eine Seele haben“, sagte Mike. „Und dass unsere Seele verschwunden ist, wenn wir tot sind. Eine Leiche ist seelenlos – ein Fleischberg auf einem Metalltisch. Nicht mehr und nicht weniger. Echte Leichen stinken bestialisch. Pathologen öffnen die Brust- und die Bauchhöhle männlicher Leichen mit einem Y-Schnitt, während weibliche Leichen einen totenhemdfreundlichen U-Schnitt bekommen. Dann entnehmen Doktor Tsokos und seine Kollegen den Toten alle Organe, wiegen sie und öffnen die letzte Höhle – den Kopf – mit einer Säge. Sie suchen nach Blutungen in den Augen, im Hirn oder inneren Organen, bis der Tote sein Geheimnis preisgibt und den Pathologen verrät, ob er natürlichen oder unnatürlichen Todes gestorben ist.“
„Wie haben Sie das ertragen?“
„Mehr schlecht als recht, doch es war interessant. Trotzdem musste ich mich fast übergeben. Vor allem wegen des Geruchs einer grün angelaufenen Wohnungsleiche, die wochenlang bei laufender Heizung auf dem Teppich gelegen hatte. Ihre Organe hatten sich regelrecht verflüssigt. Sie waren nur noch eine stinkende Suppe. Insgesamt habe ich acht Obduktionen gesehen. Drei Wohnungsleichen, einen Erhängten, eine in ihrer Geburtstagsnacht durch exzessiven Alkoholkonsum im Ehebett verstorbene Bettnässerin, eine Schlaganfall-Leiche – sowie zwei in einer Klinik verstorbene Männer, von denen der erste einen Herzinfarkt und der zweite einen Genickbruch durch einen Sturz vom Fahrrad erlitten hatte, weil ihm ein Hund in die Speichen geraten war.“
„Sie sind ganz sicher der richtige Mann für unser gemeinsames Vorhaben“, befand Minnie. „Sie müssen bloß eines bedenken…“
„Was denn?“, frage Mike.
„Seien Sie
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