Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Interviews, bei denen die Interviewten vergessen, dass sie interviewt werden – und eine lockere Konversation entsteht. Außerdem muss man seinen Interviewpartner bei jeder Floskel unterbrechen. Wenn mir zum Beispiel jemand erzählt, dass er etwas befremdlich findet, hake ich direkt ein – und frage, warum er das so genannte Fremde als bedrohlich ansieht. Daraufhin würden mein Interviewpartner und ich schnell beim Begriff Angst landen – und ich könnte ihn fragen, wovor er sich fürchtet. So gibt er nach und nach immer mehr von seinem Seelenleben preis, und verrät im besten Fall Dinge, die er sich eventuell selbst noch nicht bewusst gemacht hat. Wahrscheinlich finden Psychologen das dilettantisch, aber mich interessiert’s. Außerdem frage ich lebenserfahre Interviewpartner gern nach ihrer Meinung über den Tod – in der Hoffnung, dass ich dadurch selbst etwas lernen kann.“
„Tatsächlich? Was bekommen Sie dann zu hören?“
„Viele Prominente haben sich für Filmrollen schon oft mit dem Thema beschäftigen müssen – oder sind schon x-mal vor der Kamera gestorben. Armin Mueller-Stahl beispielsweise verriet mir, dass der Tod für ihn das letzte große Geheimnis sei, und dass er akzeptiert habe, es nicht lüften zu können. Er erzählte mir von einem Bekannten, der im Augenblick seines Sterbens Ach, hier sind wir! gerufen habe. Daraus schloss der große Schauspieler, dass der Mann etwas erkannt habe.“
„Gibt es auch andere Reaktionen?“
„Durchaus. Nehmen wir etwa Iris Berben. Am liebsten würde sie für immer leben und unsterblich sein. Ihre Begründung dafür ist interessant. Diese tolle Schauspielerin findet, dass sich das Rad der Welt derart schnell drehe, dass es schade sei, nicht mehr erleben zu können, was nach dem Ableben geschieht. Total logisch, oder?“
„Aber welche Erkenntnisse oder Annahmen verraten Wissenschaftler in Interviews?“
Mike senkte die Stimme. „Besonders erstaunt hat mich die Reaktion des Philosophen Richard David Precht. Er ist ja ein glänzender Denker. Doch er kann sich eine Welt – ohne sich selbst mittendrin – nicht vorstellen. Das bezeichnet er als das Rätsel der Nicht-Existenz. Precht glaubt, dass älteren Menschen das Sterben leichter fallen würde.“
„Das kann ich nicht bestätigen“, sagte Minnie. „Ich habe totale Angst.“
„Genau wie ich“, merkte Mike an. „Deshalb bin ich – und das verstehe ich erst rückblickend – in meinem Leben ausgezogen, um den Tod zu erlernen .“
„Klingt nach dem Grimm’schen Märchen, von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen “, meinte Minnie. „Wie haben Sie sich dem Thema angenähert?“
„Zuerst habe ich eine Reportage über den Pathologen Dr. Michael Tsokos von der Berliner Charité geschrieben – und ihm bei acht Autopsien zugesehen. Das war unvergesslich, aber auch total verstörend. Als ich nach den Obduktionen im Hotelbett lag, musste ich weinen. Später lag ich selbst auf einem Obduktionstisch – als Mordopfer für die SAT.1-Serie R.I.S. Dieses Projekt war im wahrsten Sinne des Wortes heiß, denn die Filmscheinwerfer brennen einem die Birne weg. Leichen dürfen ja nicht schwitzen.“
„Und die anderen Erfahrungen?“
„Führten mich nach Afghanistan und nach Österreich. In Herat, einem afghanischen Dorf, habe ich eine Reportage über die unglaublich mutige Kriegsreporterin Antonia Rados geschrieben, die ihrerseits gerade einen Report namens Feuertod für RTL drehte. Inhaltlich ging es dabei um den sechstägigen Todeskampf einer jungen Frau namens Gololai, die sich selbst mit Benzin verbrannt hatte. Unglaublich viele Afghaninnen tun das – aus Protest gegen die Unterdrückung durch ihre oftmals gewalttätigen Männer oder ihre Schwiegereltern, die sie wie Sklavinnen halten. Aus Verzweiflung zünden sie sich an. Sie glauben, dass entstellte Frauen von ihren Ehemännern in Ruhe gelassen werden, und sie hoffen, dass sich ihre Männer eine neue Frau nehmen und sie selbst als stille Zweitfrau im Haushalt beschäftigen. Niemals werde ich vergessen, wie Gololais Ehemann sie als Nutte beschimpfte, weil sie sich die Fußnägel rot lackiert hatte. Ich sehe immer noch vor mir, wie sie sich mit Benzin überschüttet hatte und auf eine Station namens Burning Ward kam, wo man ihr nur Aspirin gegen jene Schmerzen gab, die in Deutschland mit Morphium behandelt werden. Oder wie ihre Mutter und ihre Schwiegermutter an ihrem Sterbebett stritten. Oder wie ihre kleine Schwester die Sterbende ansah
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