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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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gewesen wäre.“
    „Wie erging es Deinem Vater während der Chemo?“
    „Er stellte sich den Krebs als eine an einem Faden hängende Kugel vor, die in seiner Lunge baumelte. Immer wieder fragte er, ob man den Faden nicht abschneiden könne. Der Arzt sagte, dass das nicht ginge. Also machte mein Vater die Chemo. Ich weiß noch, wie er auf dem heimischen Sofa saß, und mir erklärte, dass der Krebs ein kleines Männchen sei, was bei der Chemo die Hände über dem Kopf zusammen schlüge und dass er es diesem Männchen zeigen wolle. Mich erinnerte das an die Werbung für Klo-Desinfektionen, bei der grüne Schleimmonster in der Toilettenschüssel verängstigt vor Chlor-Lösungen fliehen. Leider besaß ich damals nicht den Mut, meinem Dad zu sagen, dass er sterben wird. Sonst hätte ich ihn fragen können, ob er sich die letzte Zeit nicht schöner gestalten wollte, statt ständig krank im Bett zu liegen und die Chemo über sich ergehen zu lassen. Böse bin ich dem Arzt nicht. Ich fand das Aufklärungsgespräch bloß so traurig. Es war kein richtiges Aufklärungsgespräch. Die Wahrheit wurde unter den Teppich gekehrt. Zumindest empfinde ich das so.“
    „Jetzt könnte man betreten schweigen“, sagte Angie. „Aber diese Geschichten liest man doch täglich. Annette und ich haben uns bewusst gegen lebensverlängernde Behandlungen entschieden. Mir war gleich klar, dass wir ins Hospiz müssen, damit Annette starke Schmerzmittel bekommt und das Leben wieder genießen kann. Seit wir hier sind, sind 99,9 Prozent aller Sorgen von mir abgefallen. Frau Schiffer erzählte gestern das Gleiche!“
    „Aber es gibt auch Gäste, die im Krankenhaus derart mit Medikamenten vollgepumpt werden, dass sie ihre Verlegung nach Haus Holle geistig gar nicht miterleben. Die sind vollkommen erstaunt und überfordert, wenn sie hier aufwachen“, meinte Annette. „Wie geht es Deinem Vater inzwischen? Man sieht ihn ja nie.“
    „Schlecht“, sagte Mike. „Er halluziniert, spuckt stinkenden Schleim aus, kann weder schlucken noch reden – und nur flüstern. Außerdem sieht er sehr grau aus. Trotzdem ist er glücklich in Haus Holle. Psychisch wird er von Ordensschwester Serva unterstützt.“
    „Schwester Serva?“, fragte Angie. „Die kennen wir gar nicht. Ist Dein Vater religiös?“
    „Total“, antwortete Mike. „Früher wusste ich gar nicht, dass er so sehr an die Muttergottes glaubt. Aber das liegt vielleicht daran, dass ihn seine Mum nicht groß ziehen konnte, und er in einem Kinderheim aufgewachsen ist.“
    „Ich brauche keine Religion als Hoffnungsschimmer“, erwiderte Annette. „Traurig macht mich nur, dass ich Angie zurücklassen muss.“
    „Aber“, sagte Angie zu ihrer Frau, „vorher machen wir es uns noch schön. Ende November beschlagnahmen wir den Grünen Saal. Dann kommt Annettes Familie und wir feiern ein großes Fest. Das wird Deinem Vater gut tun.“
    „Ja, mein Vater“, sinnierte Annette. „Das war auch so ein Problem.“
    „Inwiefern?“
    „Am liebsten wäre er hier mit eingezogen. Aber wir wussten, dass er Tag und Nacht aufgeregt gewesen wäre. Also habe ich Klartext geredet.“
    „Klartext?“, fragte Mike.
    „Besser einmal Disharmonie, als täglich Disharmonie“, entgegnete Angie. „Ich habe meinem Schwiegervater erklärt, dass ich mit Annette verheiratet bin, wir eine schöne Zeit haben möchten und uns Aufregung schadet. Zwar kann er jederzeit zu Besuch kommen, aber eben nicht stündlich. Wir sind uns selbst am wichtigsten.“
    „Diese Kröte war nicht gerade leicht für meinen Vater zu schlucken“, fügte Annette grinsend hinzu. „Er liebt mich von Herzen – und umgekehrt. Aber ich möchte hier nicht viel Besuch bekommen. Das erinnert mich immer ans Krankenhaus. Nur meine Arbeitskollegen von der Deutschen Post habe ich gern empfangen. Alle Postboten hatten Geld für uns gesammelt, weil sie wussten, dass wir klamm bei Kasse sind. Durch meinen plötzlichen Ausfall, und dadurch, dass Angie einen langen, unbezahlten Urlaub genommen hat, sind wir fast pleite. Leider kommt das Ehegattensplitting für uns zu spät. Schade, dass Angela Merkel die Homo-Ehe so spät mit der richtigen Ehe gleichstellt – und das auch nur, weil die Karlsruher Richter es ihr vorschreiben werden. Die Steuervorteile durch das Ehegattensplitting hätten wir gut zu Lebzeiten gebrauchen können! Unsere Pleite ist ein Grund mehr, um sich nicht täglich anzuhören, welche Sorgen sich mein Vater um meine Gesundheit, um unsere Geldnot

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