Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
wissen schon, als Rechtsanwaltsgehilfin geht das gar nicht.“
Zufrieden bemerkte Minnie, dass alles wieder beim Alten war: Marisabel unterhielt die Runde, Bella Schiffer zog ihre Lippen nach und Annette scherzte mit Adolf. Dennoch war etwas anders: Heimlich hatte Marius Minnies Hand ergriffen – unter dem Tisch. Und mehr noch: Seine Fingerspitzen kreiselten sanft über ihre Handinnenfläche. Das war ein schönes Gefühl.
Mike steckte den Kopf nur kurz in Zimmer 12 hinein. Seine Eltern schliefen tief und fest. Beide waren sehr erschöpft. Dennoch wurde Anne wach, als die Tür knarrte. Ihre müden Augen richteten sich auf ihren Sohn. „Papa schläft!“
„Ich weiß“, flüsterte Mike. „Dann gehe ich eine Runde spazieren. Kann ich noch ein paar Stunden weg sein? Kommst Du allein klar?“
„Natürlich“, entgegnete seine Mutter. „Papas Stirn ist heute ganz glatt. Hendrik hat gesagt, dass das ein gutes Zeichen sei. Solange Papa die Stirn nicht in Falten lege, quäle er sich nicht. Er muss völlig erschöpft sein.“
Sie reckte sich auf ihrem Klappbett. „Morgen Nachmittag kommen Stefanie und Julian. Sie hat gerade eine SMS geschickt. Und fürs Wochenende haben sich die Essener angekündigt. Angelika will ihren Bruder unbedingt sehen!“
„Dann mach jetzt die Augen zu! Ich drehe nur eine Runde…“
Als er die Tür schloss, war Anne schon wieder eingenickt.
In Zimmer 9 roch es tatsächlich nach kaltem Rauch. Marisabel hatte nicht übertrieben.
Die Hundezüchterin saß auf ihrem Bett. Eine hellblaue Markenjeans schmückte ihre dünnen Beine, die Locken waren frisch aufgewickelt. „Ob der Rauch durch einen Lüftungsschacht zu mir zieht?“, fragte sie den Reporter.
„Könnte sein“, antwortete Mike. „Oder er kommt von Annette und Angie…“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Marisabel. „Den Unterschied zwischen Rot-Händle und Marlboro erkenne ich sehr gut. Das hier ist eindeutig Rot-Händle.“
Die Hundezüchterin klappte ihr Laptop zu und schwang die Beine aus dem Bett. „Höchste Zeit, dass wir hier rauskommen. Zeigen Sie mir dieses Lokal! Und bringen Sie mir den Rollator!“
Sie packte ihre Siebensachen in eine überdimensionale Handtasche – eine herzförmige Tablettendose, einen neuen Lippenstift, und ihr Portemonnaie. „Ob ich einen Schal brauche?“
Mike riet ihr dazu. „Bis zum Lokal sind es nur 20 Minuten, aber vor den Hackeschen Höfen weht Mitte November manchmal ein eisiger Wind.“
„Das habe ich gar nicht bedacht. Ob es wirklich eine gute Idee ist? Nicht, dass ich mir noch den Tod hole…“ Die Hundezüchterin geriet ins Zaudern, warf einen beinahe fragenden Blick auf zwei an der Wand befestigte Putten, die über ihrem Bett schwebten , und entschied sich letztlich doch für den Ausflug. „Hach, man muss das Leben genießen.“
Als das ungleiche Paar auf den Lift zuschritt, bemerkte Mike, dass Frau Prinz staksig und langsam ging. Zwar war Marisabel genauso alt wie seine Mutter, doch zwischen dem Gang der Frauen lagen Welten.
Dennoch begann ihr gemeinsamer Spaziergang angenehm. Vor der Ponywiese saßen Professor Pellenhorn und seine Frau auf der Bank, gemeinsam mit Adolf Montrésor und Bruno. Zwei der Herren rauchten, der Buddha blinzelte Mike zu. Außerdem erblickte Marisabel Frau Schiffer am Ende der Straße. „Die fährt immer noch mit der U-Bahn nach Hause“, flüsterte sie verschwörerisch. „Angeblich, um zu putzen. Ach, meine schöne Wohnung würde ich auch gern mal wieder sehen. Aber sie ist zu weit entfernt. Wissen Sie, dass ich immer nach Berlin ziehen wollte, um näher bei meiner Tochter zu sein? Aber, dass ich es eines Tages wirklich tun würde – und dann auch noch direkt im Amüsierviertel lande – damit hätte ich niemals gerechnet.“
Vorsichtig überquerten sie eine größere Straße. Gegenüber winkten zwei Transsexuelle aus den Fenstern. „Was es hier alles zu sehen gibt“, meinte Marisabel, die Nutten ignorierend, aber durchaus der Welt zugewandt. Eine breite Hauptstraße lag vor ihnen. Hier waren unzählige Menschen unterwegs. Sie strömten in und aus dem Programmkino Chamäleon , hasteten in die U-Bahn und standen Schlange vor einer Imbissbude.
Als die Ampel auf Grün sprang, überquerten die beiden die Straße.
„Wenn man die Menschen so hetzen sieht, fühlt man sich gleich wie in einem Bienenschwarm, nicht wahr? Und nur wenige Meter entfernt wohnen wir – am Rande des Lebens. Das bunte Treiben auf dieser Straße wirkt
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