Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
zeigte. Im Arm hielt er eine ältere Frau. Beide lachten in die Kamera. Das Leben gehörte ihnen. „Kaum zu glauben, dass das erst ein halbes Jahr her ist – oder?“, fragte Montrésor.
Mike musste ihm Recht geben. In nur sechs Monaten hatten Krebs und Alzheimer die glänzenden Zukunftsaussichten des glücklichen Paares zerstört.
„Meine Lisa ist 19 Jahre älter als ich“, sagte Adolf. „Aber der Altersunterschied hat uns nie gestört. Ich war von Anfang an scharf auf sie – und sie auf mich. Bis ich sie kennenlernte, bestand mein Leben nur aus Flitzern, Ferien und Architektur. Sie hat alles auf den Kopf gestellt mit ihren verrückten Ideen. Gemeinsam haben wir nichts anbrennen lassen. Gegen meine Leidenschaft für Peugeots hatte sie auch niemals was einzuwenden. Wollen Sie meine Karosserien mal sehen?“
Montrésor zog ein Fotoalbum aus der Nachttischschublade – und blätterte sich durch sein Leben, das seidenmatt und in 10 x 15 vor Mikes Augen auferstand. Montrésor auf dem Eiffelturm, Montrésor im Ingenieursbüro, Montrésor und Lisa im Swimmingpool auf dem Oberdeck eines Luxusdampfers, Montrésor mit Baustellenhelm, Montrésor – nur mit Badehose bekleidet – auf einer grünen Wiese liegend. Daneben hatte er geschrieben: Wer will sich zu mir legen ? „Kleiner Witz“, schmunzelte Adolf. „Ich habe niemals nichts anbrennen lassen. Und ich hatte immer genug Geld für ein neues Auto.“
In der Tat: Mike zählte 14 verschiedene Peugeot s.
„Die habe ich alle bis z um Ende gefahren“, sagte Adolf leutselig, und deutete auf seinen Rollator. „Jetzt habe ich diesen Mercedes Benz. Der fährt wesentlich schlechter.“
„Haben Sie versucht, den Krebs zu besiegen?“, fragte Mike.
„Nein. Mir war gleich klar, dass das keinen Sinn macht, weil der Arzt die Stirn runzelte, als ich die Chemo ansprach. Stattdessen erwähnte er Haus Holle. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Das Hospiz kannte ich schließlich schon von früher – durch ein Programm namens Seitenwechsel , bei dem Manager für eine Woche in einem Sozialbetrieb arbeiten.“
„Was denken Sie über das Haus und seine Gäste?“
„Hier prallen Welten aufeinander. Manche Leute sind ziemlich spleenig, andere völlig normal. Kein Wunder, dass ich am Anfang am liebsten für mich geblieben bin, statt mich in die Tretmühle aus Tratsch und sozialer Kontrolle zu begeben. Ich sage nur Hundezüchterin.“
Mike hatte bereits gehört, dass sich Frau Prinz ständig über Adolfs Nikotinwolken beschwerte, die angeblich zu ihr hochzogen.
„Die legt sich mit allen an, und gibt zu allem ihren Senf dazu. Man fühlt sich manchmal richtig unerwünscht“, meinte Montrésor.
„Inwiefern?“
„Nun, sie beobachtet alles. Aber sie kommentiert auch alles. Das ist mir zu platt, dieser Klatsch. Ich bin mit mir selbst im Reinen.“ Er führte die Hand zum Mund und sog an einer neu entzündeten Rot-Händle. Dabei zog sich sein Hemdsärmel nach oben und entblößte ein Muttermal auf dem Unterarm, bei dem jeder Hautarzt sofort zum Skalpell gegriffen hätte. Der riesige Fleck war nicht nur zackig, sondern bestand obendrein – das sah Mike bei genauem Hinsehen – aus mehreren kleinen Muttermalen.
„Kürzlich habe ich Bruno gefragt, warum ich manchmal so verwirrt bin“, sagte Montrésor. „Wissen Sie, was er mir geantwortet hat? Die Ursache muss nicht der Gehirntumor sein. Möglicherweise liegt es daran, dass Sie anorektisch sind, Herr Montrésor . Wer so dünn ist wie ich, steckt das Morphium nicht so gut weg wie ein Dicker. Bestimmt trägt das eine oder andere Bierchen, das ich mir gönne, sein Übriges zur Verwirrung bei. Jedenfalls habe ich die Hospizleitung darüber informiert, dass der Körperklempner mal bei mir vorbeischauen soll, um mich besser einzustellen. Nicht, dass ich noch Amok laufe.“
„Wie in der Nacht vom 2. auf den 3. November?“, fragte Mike.
„Was ist damals geschehen?“
„Nun, in jener Nacht saßen Sie nackt auf der Parkbank im Freien.“
Adolf Montrésor grinste. „Davon habe ich schon gehört. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran.“
„Waren Sie in jener Nacht im Zimmer des alten Ehepaars? Bei den Knopinskis roch es nach Rauch…“
„Wirklich? Gut möglich! Einmal habe ich dem Alten in seinem Zimmer die Meinung gegeigt – weil er in der Gegenwart meiner dementen Lisa anzügliche Witze gemacht hatte. Anscheinend dachte er, sie würde es wieder vergessen. Der alte Knopinski war ein Kotzbrocken.“
„Kannten Sie
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