Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
werde ich nie vergessen. Das Personal war einmalig – im positiven Sinn. Ein Arzt hat mir sogar seine Handynummer für den Notfall gegeben.“
Annette sah Mike nachdenklich an. „Meine Erfahrungen sind gegensätzlich. Wenn ich den Unterschied zwischen einem Hospiz und einem Krankenhaus auf den Punkt bringen müsste, würde ich das so ausdrücken: In der Klinik schauen die Schwestern von oben auf Dich herunter, wenn sie sich mit Dir unterhalten. Im Hospiz setzen sie sich neben Dein Bett und reden vis-à-vis mit Dir.“
„Wenn sie im Krankenhaus überhaupt Zeit zum Reden haben“, meinte Angie. „Mich hat ihre Babysprache wahnsinnig aufgeregt. Wie geht es uns heute ? war eine Standardfrage. Was brauchen wir denn? lautete eine andere. Warum, verflixt nochmal, behandeln die Schwestern ihre Patienten wie Kleinkinder? Und warum drucksen die Ärzte so sehr herum, wenn es darum geht, Patienten die Wahrheit über ihre Krankheit zu sagen? Inzwischen sollte doch jeder Doc wissen, dass Patienten dadurch verängstigt werden. Ich glaube, die meisten Ärzte haben selbst Schiss – regelrechte Angst, dass jemand zusammen bricht, wenn man ihm sagt, dass er Krebs hat und sterben wird. Dann müssten die Mediziner die menschliche Seite in sich wiederfinden, die seit Jahren mit Hilfe professioneller Distanz verdrängt wurde. Diese menschliche Seite wieder zu finden, kostet Zeit und passt nicht zur Wirtschaftlichkeit. Deshalb greift das Gros der Ärzte auf Floskeln zurück oder bittet eine Schwester darum, sie fünf Minuten nach der Überbringung einer schlechten Diagnose an zu piepsen und aus der heiklen Situation zu befreien.“
„Aber das vermuten wir doch seit Jahren“, sagte Annette fröhlich. „Warum ärgern wir uns darüber?“
„Weil man, wenn man als Patient ins Kliniksystem eintaucht und abhängig von diesem System ist, mitunter Todesangst aussteht, wenn ein Arzt keine Zeit hat, um einen richtig aufzuklären oder man seine Angehörigen wegen der Besuchszeiten nicht immer sehen darf und die Diagnosen von Tag zu Tag weiter nach hinten geschoben werden. Noch eine Untersuchung, nochmal Röntgen, noch eine Biopsie, noch ein Formular mit Fremdworten – das ist soooooo schrecklich“, regte sich Angie auf.
Mike verstand das. Er sagte: „Deshalb wollte ich meinen Vater, als er seine Lungenkrebsdiagnose bekommen hatte, unbedingt in einem Spezialzentrum untersuchen lassen. Doch mein Dad entschied sich für die einfachste Lösung. Er wollte in unser städtisches Krankenhaus gehen, zu dem meine Mum hinüberspazieren konnte. Er hat bis heute nicht verstanden, dass er sterben muss, weil es ihm nie klipp und klar gesagt worden ist. Während unseres Aufklärungsgesprächs bin ich richtig traurig geworden.“
„Warum?“, fragte Annette interessiert.
„Ganz einfach. Als die Diagnose inoperabler Lungenkrebs feststand, und der Arzt meinem Vater zu einer Chemotherapie riet, die ihm etwas mehr Lebenszeit schenken sollte, habe ich Daddys Krebsaufnahmen digitalisiert, und an Die besten 20 Lungenkrebs-Spezialisten in Deutschland gemailt. Gott sei Dank hatte ich eine Liste aufbewahrt, die mal von Focus -Redakteuren recherchiert worden war. Fast alle mailten mir zurück. Einer schrieb sogar, es sei nicht auszuschließen, dass er das Leben meines Vaters retten könne. Er lud uns in eine Spezialklinik nach Essen ein.“
„Habt Ihr ihn aufgesucht?“
„Nein – weil der behandelnde Arzt meinem Vater das Gefühl vermittelte, dass ich ihm zu viele Fragen gestellt habe. Beim Aufklärungsgespräch sagte er: Wer zwanzig verschiedenen Lungenkrebsärzten mailt, bekommt auch zwanzig unterschiedliche Antworten . Aus seiner Sicht war mein Mailkontakt abstrus. Also erklärte ich ihm, dass einer der Fachärzte eine Heilung nicht ausschloss. Dann können Sie Ihren Vater gern mitnehmen und gehen! meinte der Onkologe, anstatt meinen Vater zu der Fahrt nach Essen zu ermuntern. An einen guten Arzt habe ich den Anspruch, dass er sich in Patienten und Angehörige hineinversetzen kann. Der Onkologe hätte meinen Dad zu der Autofahrt ermuntern oder ihm deutlich sagen können, dass er nicht mehr lange zu leben hat. An den Nachfragen meines Vaters war deutlich zu merken, dass er noch an eine Heilung glaubte. Wenn sich mein Vater nach einer solchen Aufklärung gegen die Fahrt nach Essen und gegen die Chemotherapie entschieden hätte, die ihn monatelang ans Bett fesselte, hätten wir uns noch eine schöne Zeit machen können, obwohl sie vielleicht kürzer
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