Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Psychologen bin ich eine notorische Querulantin, weil ich zu oft Sonderwünsche äußere. Er hätte die Drohung niemals in den richtigen Kontext eingeordnet. Also habe ich lieber geschwiegen.“
„Heißt das, Sie haben Frau Knopinski danach nie mehr allein gesehen?“
„Doch“, sagte Marisabel. „In der Nacht vom zweiten auf den dritten November war ich nochmal bei Gertrud im Zimmer.“
Mike durchfuhr ein elektrischer Blitzschlag. „In ihrer Todesnacht?“, frage er erstaunt
„Ja“, antwortete die Hundezüchterin, „aber ich möchte nicht, dass das jemand weiß. Es ist mir peinlich.“ Dann schilderte sie dem Journalisten, dass sie von irgendeinem Schrei wach geworden und rasch in ihre Hauspantoffeln geschlüpft war. „Ich habe nicht auf die Uhr gesehen“, erinnerte sich Marisabel, „aber im Haus war mächtig was los. Vor allem in meinem Flur. Der dicke Dietmar und der schusselige Hendrik hasteten von einem Zimmer zum nächsten – vor allem zu Cristiano und Nadine. Ich beschloss, in die Küche zu gehen, um mir eine Apfelschorle zu holen. Als ich im ersten Stock ankam, war die Zimmertür der Knopinskis nur angelehnt. Das kam mir seltsam vor. Also schlenderte ich zum Ende des Ganges. Dann warf ich einen Blick in das Zimmer.“
„Was sahen Sie?“
„Direkt hinter der Tür stand ein Rollstuhl. Im Halbdunkel sah ich, dass Gertrud Knopinski im Bett lag. Sie schnarchte leise. Ihr Mann saß an ihrer Seite, obwohl sitzen vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Sein Kopf lag verdreht auf ihrer Brust, in einer seltsamen Haltung. Außerdem war ein Pfleger im Zimmer. Aus dem Bad drang ein Lichtschimmer und ich hörte leise Schritte. Also entfernte ich mich leise und ging hinunter in die Küche.“
„Welcher Pfleger war im Bad?“
„Keine Ahnung“, sagte Marisabel. „Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Durch das Morphium wird man manchmal etwas benommen. Aber ich glaube, dass ich noch jemanden gesehen habe. Es muss ein ganz kleiner Pfleger gewesen sein, der sich unheimlich schnell bewegen konnte. Bestimmt war es der gleiche Typ, den ich nachts bereits mehrmals im Flur gesehen habe – derjenige, der mich immer an einen Engel erinnert. Außerdem saß Minnie auf dem Sofa vor ihrem Zimmer. Anscheinend schlief sie tief und fest.“
Die Hundezüchterin seufzte und stemmte ihre Hand in die Hüfte. „Jetzt möchte ich rasch zurück ins Hospiz. Ich habe mein Morphium vergessen. Zahlen Sie den Grog für mich?“
Mike erfüllte ihren Wunsch und gemeinsam schlichen sie, so schnell wie möglich, zurück zu Haus Holle.
Minnie staunte nicht schlecht.
„Frau Knopinski schnarchte, während der verdrehte Kopf ihres Mannes auf ihrer Brust ruhte? Und im Bad hielt sich jemand auf? Das widerspricht der Theorie, die ich von Bruno gehört habe. Er sagte, dass Knut Knopinski vor Schreck über den Tod seiner Frau einen Herzinfarkt erlitten habe. Nun rückt Marisabels Beobachtung das Ganze in ein gegensätzliches Licht. In Wahrheit ist Knut Knopinski vor seiner Frau gestorben! Und den kleinen Mann, der sich so schnell bewegen kann, habe ich schließlich auch schon gesehen.“
„Außerdem war jemand im Bad…“
„Dabei war die Tür in jener Nacht zu, weil die Knopinskis nicht gestört werden wollten. Aber wer könnte sich im Badezimmer aufgehalten haben?“
„Dietmar und Hendrik scheiden aus“, sagte Mike. „Frau Prinz hörte, dass die beiden im zweiten Stockwerk umher eilten. Aber es gibt ein paar andere Gäste, die im Bad gewesen sein könnten – zum Beispiel Omi. Sie wohnte direkt neben den Knopinskis.“
„Welchen Grund könnte Klärchen Krause gehabt haben, sich nachts in Zimmer 2 zu schleichen?“
Mike berichtete der alten Dame von Omis Erzählungen.
„Sie meinen, dass sie sich für den sexuellen Missbrauch an Knopinski gerächt haben könnte?“, fragte Minnie.
„Durchaus denkbar“, sagte Mike. „Aber es könnte auch Adolf Montrésor in einem Anfall von wahnhafter Eifersucht gewesen sein. Knut Knopinski hatte sich gegenüber der demenzkranken Lisa Montrésor Anzüglichkeiten erlaubt. Adolf und Omi waren die Nachbarn von Zimmer 2. Sie hätten sich nachts am unauffälligsten in Knopinskis Zimmer schleichen können. Doch mir ist noch eine dritte Theorie eingefallen. Was wäre, wenn Gertrud Knopinski ihren Mann aus Mitleid getötet hat – weil sie wusste, dass sie sterben musste, und ihn nicht allein zurücklassen wollte? Bruno behauptet, dass am Abend vor der Todesnacht eine große Menge
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