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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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auf mich, als würden die Menschen vollkommen vergessen, dass der Tod mitten unter ihnen weilt.“ Die Hundezüchterin blickte ihren Begleiter an. „Finden Sie nicht? Sie sagen ja gar nichts.“
    Tatsächlich hatte Mike bislang fast nur geschwiegen. Er spürte, dass Marisabel sich selbst genügte, als sie und ihr Rollator ins Alltagsleben der Arbeiter, Kinobesucher und Touristen eintauchten und sich vom Strom mitreißen ließen. Wenn man nicht wusste, dass Frau Prinz starke Morphiumspritzen bekam und ihr Körper voller Krebs war, konnte man sie für gesund halten – auch wenn es etwas ungewöhnlich war, dass eine schlanke, gutaussehende Frau von ungefähr 60 einen Rollator benötigte. Doch dem Reporter entging auch nicht, dass sich niemand dafür interessierte. Jeder war mit sich selbst beschäftigt.
    Die nächste Straße führte schnurstracks zu ihrem Ziel, vorbei an schon am Nachmittag geöffneten Kneipen für Touristen sowie kleinen Restaurants. Durch das Fenster eines Lokals sah er Annette und Angie rauchend und lachend im Innenraum sitzen. Nur Annettes Elefantenrüssel erinnerte Mike an Haus Holle. Frau Prinz jedoch war zu beschäftigt, um ihre Mitbewohner zur Kenntnis zu nehmen. Einerseits erforderte es Konzentration, einen Fuß vor den nächsten zu setzen und den Rollator bergauf zu schieben, andererseits hing sie ihren Gedanken nach. „Wie geht es Ihrem Vater?“, erkundigte sie sich. „Man sieht ihn ja niemals. Wie alt ist er denn?“
    „63“, antwortete Mike.
    „Das ist ja kein Alter“, meinte Marisabel. „Man sagt, er litte sehr unter Atemnot. Kommt Mutter deshalb so selten zum Essen? Wenn sie mal eine gute Zuhörerin braucht, ich würde mich anbieten. Wie alt ist Mutter?“
    „59“, sagte Mike.
    „Hach“, entgegnete die Hundezüchterin. „So alt wie ich. Welcher ist Mutters Geburtsmonat?“
    „Am 25. Juni wird sie 60!“, verriet der Journalist.
    „Also leicht jünger als ich“, bilanzierte Marisabel. „Ich werde schon im April 60. Ich meine, wenn ich das noch schaffe.“ Sie runzelte die Stirn. „Gestern wurde eine Studie der Uni Rostock veröffentlicht. Laut den Altersforschern steigt die Zahl der 100-Jährigen in Deutschland rasant an, weil sich die Sterblichkeit ab dem 80. Lebensjahr seit den Sechziger Jahren halbiert hat. Früher wurden die Uralten noch von Herzkrankheiten dahin gerafft, heute können die Ärzte das viel besser behandeln. Nur wir Krebskranken sind chancenlos. Ich würde so gern meinen 60. Geburtstag feiern! Es ist wirklich mein sehnlichster Wunsch. Mit meiner Tochter! Und noch einmal in die Oper gehen. Hänsel und Gretel zu Weihnachten – wäre das nicht schön? Oder Der Nussknacker ?“
    Mike bejahte.
    Doch die Gedanken von Frau Prinz waren bereits weiter gewandert, während sie Fuß vor Fuß setzte und sich das ungleiche Paar einen Hügel hinaufschob. „Den Rollator“, sagte sie, „brauche ich nur zur Sicherheit. Meine Energiequelle ist der Wille Gottes plus mein Wille . Mein Haus da oben ist noch nicht fertig.“
    Sie erreichten die Oranienburger Straße.
    „Wie viele Menschen hier spazieren gehen“, staunte die Hundezüchterin. „Hauptsache, ich fange mir keine Bakterien ein bei der frischen Brise. Wie weit ist es noch?“
    Mike deutete auf ein kleines Lokal. „Wir haben es fast geschafft, Frau Prinz.“ Höflich hielt er der Dame die Eingangstür auf. Zehn Minuten später waren beide mit einem Pflaumengrog versorgt.
    „Hach, mal was anderes als Kostjas Vitamindrinks“, sagte die Hundezüchterin genüsslich und lehnte sich zurück. „Er meint es ja gut mit seinen Speisen, und manche gehen auch durchaus als Delikatessen durch, aber, ob die anderen Gäste das wohl immer zu schätzen wissen? Omi zum Beispiel schlingt doch unglaublich. Man kann ihr kaum beim Essen zusehen. Trotzdem mache ich mir Sorgen, wenn sie soviel, verzeihen Sie den Ausdruck, rülpst wie heute. Ladylike ist das nicht.“
    Sie fuhr sich durch die roten Locken. „Und dann Frau Schiffer mit ihrem Schönheitstick. Natürlich ist es sinnvoll, sich morgens anzuziehen, hübsch zu machen und den Tag frisch zu begrüßen – aber muss man sich derart herausputzen und so oft unters Solarium gehen? Sie trieft ja über vor Schminke. Zuviel ist zu viel, finden Sie nicht auch?“
    Geschickt lenkte Mike das Thema auf sein eigentliches Anliegen. „Was denken Sie über Menschen, die zu zweit ins Hospiz ziehen?“
    „Wie Ihre Mutter? Ich finde das bewundernswert. Allerdings sieht sie arg

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